Die "Kragenlinie" beschäftigte die Gewerkschaften

Das Verhältnis von Angestellten und Arbeitern bot Zündstoff

"Eine einheitliche Arbeitnehmerschicht ist in Bildung begriffen. Die Gruppierung der Bevölkerung nach Klassengesichtspunkten hat seit der Zeit vor dem Krieg große Fortschritte gemacht", frohlockten der sozialdemokratische Nationalökonom Emil Lederer und sein Berufskollege Jakob Marschak 1926 in der Abhandlung "Der neue Mittelstand". Drei Jahre später war Lederers Optimismus verflogen: "Teilen auch die kapitalistischen Zwischenschichten heute bereits das Schicksal des Proletariats," schrieb er in einem 1929 erschienenen Zeitschriftenartikel, "so hat ihre Mehrheit doch noch nicht ihre bürgerliche Ideologie aufgegeben." Die Hoffnung auf einen Solidaritätspakt von Arbeitern und Angestellten war wieder einmal der Einsicht gewichen, daß ein gemeinsames festes Bündnis der beiden Arbeitnehmergruppen nicht so nahelag wie gewünscht.

Für die deutsche Arbeiterbewegung, die ihre Basis über den traditionellen Kern hinaus erweitern wollte, wurde die Einbindung von Angestellten schon früh zum Dauerproblem, das immer noch nicht befriedigend gelöst ist. Auseinandersetzungen um die Zusammenarbeit von Arbeitern und Angestellten kennzeichnen auch die Gewerkschaftsgeschichte.

Ein Rückblick auf die Entwicklung der deutschen Angestelltenschaft und ihr Verhältnis zur gewerkschaftlichen Organisierung trägt zu der Erklärung bei, warum den Gewerkschaften bis heute der große Einbruch in diese Schicht versagt blieb.

Obwohl die Angestellten als Großgruppe ebenso wie die Arbeiter ein Produkt der Industrialisierung sind, nahm das öffentliche Bewußtsein sie erst sehr viel später zur Kenntnis. Diese Nichtbeachtung hing sicherlich mit ihrer zahlenmäßigen Stärke oder treffender: Schwäche in der Frühphase der Industrialisierung und mit ihrer Verteilung in den Wirtschaftsbereichen zusammen. So waren 1882 in Deutschland von den 4128167 Industriebeschäftigten (ohne Handwerk) 97,6 Prozent Arbeiter und nur 2,4 Prozent galten als Angestellte, zu denen die Werkmeister noch nicht gerechnet wurden. 1907 registrierten die deutschen Behörden 8584358 Arbeiter in der Industrie gegenüber 686007 Angestellten, die in diesem Bereich arbeiteten, was einem Anteil von 7,4 Prozent entspricht. Insgesamt standen in jenem Jahr - so ermittelte die Berufszählung - ungefähr 14 Millionen Lohnarbeitern knapp zwei Millionen Angestellte gegenüber. Mehr als die Hälfte dieser Angestellten arbeitete im tertiären Sektor, dem die Industrialisierung einen kräftigen Aufschwung beschert hatte. Dabei änderten sich auch die Strukturen. Im Handel etwa waren 1882 noch 45 Prozent der Erwerbstätigen selbständig, 1907 nur 29 Prozent. Größere Unternehmen, die Massengüter verkauften, waren für den Konkurrenzkampf besser gerüstet. Die ersten Kaufhäuser wurden in den neunziger Jahren eröffnet. Es dominierten aber weiterhin kleine Betriebseinheiten. 80 Prozent der Handelsunternehmen beschäftigten 1907 weniger als fünf Personen.

Angaben über die Zahl der Angestellten sind allerdings problematisch, weil der Bürokratie des Kaiserstaates - zumindest bis 1911 - eine genaue Definition dieser Arbeitnehmergruppe fehlte. In seiner Darstellung "Die Angestellten in der deutschen Geschichte" berichtet der Historiker Jürgen Kocka unter anderem über die Entwicklung des Angestelltenbegriffs. Demnach wurde im 19. Jahrhundert sowohl für Beamte als auch für Gehaltsempfänger in Privatunternehmen dieses Wort verwendet. Es war sogar möglich, Arbeiter als Angestellte zu bezeichnen. Eher aber wurden diejenigen, die heute als Angestellte gelten, (Privat-)Beamte genannt. Gewisse Übereinstimmungen mit den Arbeitsverhältnissen der Staatsdiener, führten zur Annahme dieses Terminus, der durchaus prestigeträchtig war und für eine herausgehobene Gruppe in der Betriebshierarchie reserviert war. Mit der Ausweitung anspruchsloserer Tätigkeiten im nicht unmittelbar produktionsbezogenen Arbeitsbereich setzte sich jedoch immer stärker die Bezeichnung Angestellte für die dort Beschäftigten durch. Teilweise wurden besonders die qualifizierteren Angestellten aber weiterhin (Privat- )Beamte genannt; noch nach der Jahrhundertwende waren beiden Begriffe Synonyme.

Damit offenbarte sich eine Tradition, die eine Identifizierung von Angestellten und Arbeitern und folglich auch eine Solidarisierung erschwerte. Ihr Bewußtsein grenzte die beiden Gruppen voneinander ab, Unterschiede in der materiellen Situation hatten eine geringere Bedeutung, obgleich sie die Grundlage für die Selbsteinschätzung der Angestellten waren.

Während Arbeiter unmittelbar an der Produktion beteiligt sind, erledigen Angestellte arbeitsvorbereitende, kontrollierende, kaufmännische und Verwaltungs-Aufgaben. Sie arbeiten überwiegend nicht körperlich. Ihre Aufstiegschancen sind besser. Statt des häufig leistungsabhängigen Lohns erhalten sie ein festes Gehalt. Im Durchschnitt verdienen sie auch besser. Diese Kriterien, es ließen sich natürlich noch weitere anführen, charakterisieren sowohl die frühere als auch die derzeitige Arbeitsplatzsituation der Angestellten. Eine allgemeine eng umrissene Definition dieser Arbeitnehmergruppe wird durch die Inhomogenität der beruflichen Zusammensetzung erschwert, deren Spektrum vom Handlungsgehilfen bis zum Techniker, vom Bürodiener bis zum Spitzenmanager reicht.

Daß sich trotzdem so etwas wie ein "Angestelltenbewußtsein" entwickelte, hängt einerseits mit der deutschen bürokratischen Tradition zusammen, die eine ideelle Verwandtschaft von Angestellten und Beamten bewirkte, andererseits mit der staatlichen Politik seit der Kaiserzeit.

Im Wilhelminischen Deutschland wurde die Abgrenzung von Arbeitern und Angestellten bewußt gefördert. Der "neue Mittelstand" sollte als Puffer gegenüber der gefürchteten Arbeiterschaft dienen. Das ließen sich konservative Regierungen sogar etwas kosten. Als Höhepunkt ihrer Bemühungen kann wohl das Angestelltenversicherungsgesetz aus dem Jahr 1911 gelten, das den davon Betroffenen etliche Vergünstigen gegenüber dem Alters- und Invalidenversicherungsgesetz gewährte, das - so schätzten es Angestelltenfunktionäre ein - "auf den Handarbeiterstand zugeschnitten" sei. Mit diesem Gesetz und ähnlichen Maßnahmen wurde die Bildung und Festigung eines Angestelltenbewußtseins begünstigt, mit dem eingestandenen Ziel, eine Solidarisierung der verschiedenen Arbeitnehmergruppen zu verhindern. Freimütig äußerte sich zum Beispiel der Syndikus des Verbandes sächsischer Industrieller und spätere Reichskanzler Gustav Stresemann: Er warnte vor einer Einheitsversicherung, um nicht mit ihr der "Idee des gemeinsamen Klassenkampfes in Form der Versicherung das Siegel" aufzudrücken.

Angesichts dieser die Entwicklung der Angestelltenschaft prägenden Einflüsse, überrascht es nicht, daß diese Arbeitnehmergruppe nicht zu den Vorreitern der Gewerkschaftsbewegung gehörte. In der Geschichte ihrer Organisationen dominiert eine überwiegend berufs- und mittelständisch ausgerichtete Interessenpolitik, zu deren hervorstechenden Merkmalen die aggressive Abgrenzung gegenüber der Arbeiterschaft gehörte. In der Frühzeit waren die Zusammenschlüsse der Angestellten außerdem meistens wirtschaftsfriedlich. Vor dem ersten Weltkrieg gab es wenige Verbände, die eindeutig gewerkschaftliche Grundprinzipien vertraten, darunter waren als verhältnismäßig große Organisationen der 1897 gegründete Zentralverband der Handlungsgehilfen und Handlungsgehilfinnen (ZdH) sowie der 1904 entstandene Bund der Technisch-Industriellen Beamten (Butib). Der ZdH schloß sich der Generalkommission an, dem gemeinsamen Gremium der sozialdemokratischen freien Gewerkschaften. In seinem Buch "Geschichte der deutschen freien Gewerkschaften", das in der Weimarer Republik erschien, erinnerte der Gewerkschaftsfunktionär Karl Zwing an den bescheidenen Beginn einer Zusammenarbeit: "Ein kleines Häuflein von 163 Büroangestellten waren die ersten Angestellten, die im Jahre 1896 erstmalig den Weg zu den freien Arbeitergewerkschaften fanden und drei Jahre später wurde dieser Vortrupp durch den Zentralverband der Handlungsgehilfen mit 500 und dem Verband der Lagerhalter mit 334 Mitgliedern verstärkt." Bis zum ersten Weltkrieg waren die freien Gewerkschaften der kaufmännischen Angestellten im Vergleich zu den anderen Organisationen Splittergruppen. So hatten sie 1913 zusammen 24809 Mitglieder, der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV) dagegen 148079 und zwei weitere Organisationen ebenfalls jeweils mehr als 100000.

Im Bereich der technischen Angestellten befürwortete keiner der dominierenden Verbände eine feste Allianz mit den Arbeitergewerkschaften. Insgesamt war diese Gruppe gegenüber gewerkschaftlichen Prinzipen jedoch aufgeschlossener als die übrigen Angestellten.

Es war der Krieg, der in weiten Kreisen der Angestellten eine positive Einschätzung von gewerkschaftlichen Grundsätzen bewirkte. Während dieser Zeit verbreitete sich bei ihnen die Erkenntnis, den Unternehmern ohne schlagkräftige Gewerkschaften hilflos ausgeliefert zu sein. Die Zahlen der Preis- und Einkommensentwicklungen erklären diesen Sinneswandel: Bis Ende Juli 1917 war der Lebenshaltungsindex in Deutschland um rund 120 Prozent, der nominale Verdienst von Arbeitern in Kriegsindustrien um circa 100 Prozent und in Friedensindustrien um ungefähr 40 Prozent gestiegen. Die Gehälter von befragten Mitgliedern einer großen Handlungsgehilfenorganisation hatten sich dagegen nur um 18 Prozent erhöht.

Die großen Verbände vollzogen einen Kurswechsel. Selbst der DHV erkannte nun Streiks als legitimes Mittel der Interessenvertretung an. Außerdem schlossen sich die Organisationen enger zusammen. Die 1916 gegründete "Arbeitsgemeinschaft kaufmännischer Verbände stand für eine eher berufsständische Politik. Als Gewerkschaften können die Mitglieder der 1915 entstandenen Arbeitsgemeinschaft technischer Verbände und der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände (AfA) angesehen werden.

In den ersten Nachkriegsjahren verbuchten vor allem die in der AfA zusammengeschlossenen Gewerkschaften, von denen nur ein Teil der Generalkommission angehörte, erhebliche Zuwächse. So vervielfachte der ZdH seine Mitgliederzahlen seit 1918 in zwei Jahren von rund 60000 auf ungefähr 400000. 1920 schloß er sich dem ein Jahr zuvor gegründeten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) an, der die Generalkommission ablöste, trat aber wieder aus, nachdem im selben Jahr der Allgemeine freie Angestelltenbund (AfA-Bund) gegründet worden war, in dem die AfA aufging. Nur widerwillig einigte sich der ADGB mit dem AfA-Bund 1921 auf einen Organisationsvertrag und erkannte ihn als souveränen, gleichberechtigten Bündnispartner an. Die ADGB-Führung hatte gehofft, daß sich die Angestelltengewerkschaften dem Dachverband direkt angliedern würden. Die Drei-Säulen-Theorie, die mit der Schaffung des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes 1922 und seiner Assoziierung ein Jahr darauf umgesetzt war, fand beim ADGB wenig Anklang, zumal gerade der AfA-Bund seine Unabhängigkeit sorgfältig hütete und deshalb auch den ADGB-Vorschlag ablehnte, die Bünde durch gemeinsame Kongresse und eine einheitliche Spitze zu verbinden. Nur der ZdH vertrat eine andere Auffassung. Für die übrigen Verbände ist eher die Meinung des Vorsitzenden des AfA-Bundes Siegfried Aufhäuser typisch: "Die Angestellten werden nur den Platz an der Sonne haben, den sie sich selbst erringen."

Die Vorstellungen über die Zusammenarbeit von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und Angestellten differierten also auch bei jenen erheblich, die grundsätzlich dazu bereit waren. Die Beziehungen zwischen ADGB und AfA-Bund waren jedoch im allgemeinen recht harmonisch.

Wenig günstig verlief die Mitgliederentwicklung des AfA-Bundes. Hatte er 1920 noch beinahe die Hälfte der organisierten Angestellten in seinen Karteien erfaßt, so war es 1930 nur noch ein knappes Drittel. Seine Hauptkonkurrenten waren der liberale zentralistische Gewerkschaftsbund der Angestellten (GdA), der mit den Hirsch- Dunckerschen Arbeitergewerkschaften einen Kartellvertrag abgeschlossen hatte, und der Gesamtverband der deutschen Angestelltengewerkschaften (Gedag), ein Bündnispartner der christlichen Arbeitergewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Während der AfA-Bund vor allem technische Angestellte organisierte, waren die kaufmännischen Angestellten überwiegend in der GdA und der Gedag zu finden, die sich überwiegend einer aggressiven Standespolitik verschrieben hatten, die als eine ihrer Hauptaufgaben die Erhaltung und den Ausbau des versicherungs- und arbeitsrechtlichen Sonderstatus der Angestellten betrachteten.

Der gemäßigte Linkstrend der Angestelltenorganisationen in der jungen Weimarer Republik setzte sich in den folgenden Jahren nicht fort. - Im Gegenteil: Die Angestellten tendierten zunehmend nach Rechts und bildeten schließlich ein leicht auszuschöpfenden Reservoir für den Nationalsozialismus. Lediglich die im AfA-Bund zusammengeschlossenen Angestellten erwiesen sich als verhältnismäßig resistent.

Im "Dritten Reich" wurde der Arbeiter- Angestellten-Unterschied etwas nivelliert. Den Ideologen der "Volksgemeinschaft" gelang es jedoch nicht, die traditionelle Bedeutung der "Kragenlinie" erheblich zu verringern.

Beim Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung nach dem Sieg über das Nazi-Regime sorgte das Verhältnis von Arbeitern und Angestellten erneut für Zündstoff. Nach dem Motto "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" hatten sich viele Angestellte gemeinsam mit Arbeitern und Beamten in den Arbeitnehmerorganisationen zusammengeschlossen. In Hamburg entstand jedoch 1945 die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG), deren Aktivitäten bald über die Hansestadt hinausgingen. Daraus resultierten Konflikte mit den übrigen Gewerkschaften. Schließlich einigten sich in der britischen Zone Vertreter des gewerkschaftlichen Zonenausschusses am 4. Dezember 1946 auf das nach dem Tagungsort benannte Nienburger Abkommen. Unter anderem sah es die gegenseitige Besitzstandswahrung vor und erlaubte den Übertritt nur bei Zustimmung der abgebenden Organisation. Die Grenzstreitigkeiten hörten jedoch nicht auf und es folgten weitere Vereinbarungen.

Ein brauchbarer Kompromiß zwischen den Interessen der Angestelltenorganisation und denen der übrigen Gewerkschaften schien das sogenannte Frankfurter Abkommen vom 12. März 1947 zu sein, eine Übereinkunft von Funktionären aller Besatzungszonen. Darin wird die Schaffung von Angestelltengewerkschaften empfohlen, gleichzeitig aber als "endgültiges Ziel" die "organisatorische Vereinigung aller Arbeitnehmer" betont. In einigen Bereichen sollten von Anfang an einheitliche Organisationen entstehen. Das waren: Bergbau, Energieversorgung, Stahl und Eisen, Chemie, öffentliche Verwaltungen und Betriebe sowie die öffentlichen Körperschaften.

Doch vom friedlichen Beieinander waren die Industrieverbände und die DAG auch nach dem Frankfurter Abkommen noch weit entfernt. So demonstrierten zum Beispiel die hitzigen Diskussionen auf dem Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) der britischen Zone, der vom 22. bis 25. April 1947 in Bielefeld tagte, wie umstritten der Kompromiß war. Zur Rechtfertigung seiner Standesorganisation trug der DAG- Vorsitzende Wilhelm Dörr die Zukunftsprognose vor, wonach die Zahl der Angestellten stark zurückgehen werde. "Ich warne und bitte sie", appellierte er an die Delegierten, "die Angestellten vor dem Herabsinken ins Lumpenproletariat zu bewahren." Der Funktionär war sich sicher, "daß nur eine starke Gewerkschaft der Angestellten ihre Interessen vertreten kann". Schließlich drohte er mit der Abspaltung seines Verbandes vom Bund, wenn die Delegierten nicht für das Frankfurter Abkommen stimmen würden. "Er hat mich in meinem Entschluß fast irre gemacht", kritisierte Hans Böckler, ein Befürworter der Kompromißformel, den DAG-Vorsitzenden. Und er erläuterte: "Wenn man so etwas befürchtet, und die Angestellten haben sehr viel Grund dieses zu befürchten, ein Herabsinken auf eine niedrigere Stufe, dann würde ich als Angestellter sagen: dann suchst du rechtzeitig als Angestellter Schutz, dann schaust du nach, daß du Verbindungen bekommst zu denen, denen du künftig Klassen- und Standesgenosse sein wirst." Doch trotz dieser Einschätzung empfahl Böckler den Delegierten die Bestätigung der Frankfurter Vereinbarung, die auch erfolgte. Die Fehde zwischen der Standesorganisation und den Industrieverbänden blieb jedoch bestehen. Verstöße gegen das Abkommen gab es auf beiden Seiten.

Als besonders dreist mußten die Industriegewerkschaften jedoch die "Entschließung zur Organisationsfrage" auf dem zweiten außerordentlichen Gewerkschaftskongreß der DAG vom 21. bis 23. Mai 1948 in Bielefeld empfinden: "Die DAG organisiert in ihren Reihen die kaufmännischen und technischen Angestellten in Handel und Industrie, in Banken, Sparkassen und Versicherungsbetrieben, in der Schiffahrt und allen anderen Unternehmungen, die Angestellte beschäftigen." Versuche des DGB (britische Zone), die DAG zu einer Revidierung dieses Beschlusses zu veranlassen, waren erfolglos.

Seit Beginn des Jahres 1948 hat die DAG den Bund faktisch verlassen, indem sie keine Beiträge mehr abführte. Einen offiziellen Austritt und ein Ausschlußverfahren des DGB (Britische Zone) gab es nicht.

Auch bei den Beratungen über die Vereinigung der Gewerkschaften in den Westzonen war die Organisierung der Angestellten eines der Hauptprobleme. Die Differenzen zwischen den Industriegewerkschaften und der DAG sowie den ihr nahestehenden Gewerkschaften ließen sich schließlich nicht überbrücken. Die DAG konstituierte sich als bundesweite Organisation und gehört dem 1949 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) nicht an.

Diese Spaltung lediglich als Ergebnis verfehlter Organisationspolitik anzusehen, wäre zu kurzsichtig. Die Industriegewerkschaften mit ihrem Grundprinzip "ein Betrieb - eine Gewerkschaft" vertraten nach dem Krieg ein Konzept, das sich inzwischen erfolgreicher behauptet hat als die Strategie der DAG, deren Position am Modell des AfA-Bundes ausgerichtet war. Walter Schmidt von der Industriegewerkschaft Bergbau begründete 1946 die Notwendigkeit einer gemeinsamen Interessenvertretung der Arbeitnehmer: "Die Frage nach der Organisationsform der Angestelltenbewegung ist von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des wirtschaftlichen Neubaus und für die Lösung des Sozialproblems unserer Zeit, der die Aufgabe zufällt, die soziale Entlastung der Arbeit und die Demokratisierung de Wirtschaft durchzuführen. Man muß sich nun endlich darüber klar sein, daß die Gewerkschaften bei ihrer Neugründung eine Organisationsform finden müssen, die ausgerichtet ist auf die Erfüllung der gewaltigen vor ihr liegenden Aufgaben. Diese gehen weit über den Rahmen der reinen beruflichen und wirtschaftlichen Interessenvertretung ihrer Mitglieder hinaus. Es muß daher eine Organisationsform angestrebt werden, die die bestmögliche Zusammenfassung aller gewerkschaftlichen Kräfte in Richtung auf die vorhandene Zielsetzung gewährleistet. Es ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die Schlagkraft der Gewerkschaftsbewegung nicht durch die Verfolgung beruflicher Sonderinteressen und durch den Gruppenegoismus irgendwelcher Berufsschichten gefährdet wird."

Auf die Angestellten wirken diese Grundsätze offenbar überzeugender als die DAG-Leitlinien. Die DGB- Gewerkschaften vereinigten immer mehr Angestellte in ihren Reihen als die Konkurrenzorganisation. Von 1949 bis etwa Mitte der 50er Jahre wuchs die DAG jedoch schneller als der Angestellten- Anteil in den DGB-Gewerkschaften. Danach kehrte sich allmählich der Trend um und die DGB-Gewerkschaften erzielten erheblich höhere Zuwächse als die DAG.

Wie die Gewerkschaften des AfA-Bundes stützen sich auch die DGB-Verbände besonders auf die technischen Angestellten.

Das Sonderbewußtsein der Angestellten hat sich allem Anschein nach abgeschwächt. Darauf deutet auch die Entwicklung der DAG, die in den fünfziger Jahren noch eine ausgeprägte Standespolitik betrieb, ihren berufs- und mittelständischen Kurs inzwischen aber weitgehend verließ. Trotzdem bestehen offensichtlich bei vielen Angestellten weiterhin erhebliche Vorbehalte gegenüber dem gewerkschaftlichen Engagement, nicht nur gegenüber einer Zusammenarbeit mit den Arbeitern. Die mittelständische, besonders in der Kaiserzeit geförderte Tradition, an die konservative Bundesregierungen durch die Gewährung von Privilegien für die Angestelltenschaft anknüpften, dürfte dafür in erster Linie verantwortlich sein.

Astrid Brand, 1987
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