Mit zwölf Mann die Welt aus den Angeln heben

1863 entstand in Leipzig ein Vorläufer der SPD

Es war eines jener Ereignisse, die der Nachwelt nicht gleichgültig sind und die aus diesem Grund oft "historisch" genannt werden, obwohl doch - streng genommen - alles Vergangene "historisch" ist. Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet, ein Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Die Anfänge waren äußerst bescheiden. Der Schuster Julius Vahlteich, damals Mitte Zwanzig und einer der eifrigsten Werber für die Vereinsgründung, schrieb später über die erste Versammlung des ADAV: "Nur aus 11 Städten war eine Vertretung in Leipzig erschienen und die anwesenden Delegaten waren die Offiziere einer Armee, die ebenso klein wie unorganisiert und zum Schlagen unfertig war.
Dazu ein Feldherr, dessen inneren Wert fast niemand kannte, der aber durch sein herausforderndes, eine starke Eitelkeit verratendes Auftreten gerade die besten Leute abstieß.
Dazu untergeordnete Führer, die durch Jugend, mangelnde Bildung oder zweifelhafte soziale Stellung die Geringschätzung des Feindes herausforderten.
Dazu Mangel an jeder Vertretung in der Presse und Mangel an Geld, das bekanntlich dreifach zum Kriegführen gehört.
Gegenüber all' diesen Mängeln eine Aufgabe, die in nichts weniger bestand, als eine Welt aus ihren Angeln zu heben."

Die Gründungsversammlung des ADAV muß tatsächlich nicht gerade sehr beeindruckend gewirkt haben. Im geschmückten Saal des Leipziger "Pantheons" waren am Nachmittag des 23. Mai 1863 zwölf Delegierte zusammengekommen, die elf Städte und - so schätzte Vahlteich - ungefähr 400 zukünftige Mitglieder repräsentierten. Einige geladene Gäste durften sich an den Verhandlungen beteiligen, aber nicht abstimmen. Zu ihnen gehörte auch Ferdinand Lassalle, jener "Feldherr", den Vahlteich erwähnte, das "geistige Haupt" der neuen Organisation. Wenige hundert Leipziger Arbeiter bildeten die Staffage dieser kleinen Versammlung. Über die kümmerliche Beteiligung amüsierten sich viele Berichterstatter ebenso wie sie über den Namen des Veranstaltungsortes spotteten: Das "Pantheon" tauften sie in "Pandämonium" um, aus dem Tempel der Götter wurde der Aufenthaltsort der bösen Geister.

Im kargen Chronistenstil berichtete die Deutsche Allgemeine Zeitung vom 27. Mai 1863 über das Ereignis. Ausdrücklich erklärt der Verfasser, "daß er sich auch bei diesem Bericht wiederum rein an das Thatsächliche halten wird", womit er aber offensichtlich überfordert war, denn einige Fakten in seinem Artikel stimmen nicht. Doch er wollte mit diesem Hinweis wohl vor allem sein Bemühen um Objektivität herausstellen, an dem es andere Blätter offensichtlich fehlen ließen. Im nüchternen Bericht der Deutschen Allgemeinen Zeitung wirkt die Gründungsversammlung weniger kläglich als sie vermutlich gewesen ist. Hoffnungsvolle Reden - vom Reporter getreulich wiedergegeben - verdeckten die tatsächlichen Kräfteverhältnisse. "Wir sind heute bereits eine mächtige Partei, und in diesem Augenblick erwarten 8-10 000 deutsche Arbeiter ungeduldig den Moment, wo Listen aufgelegt werden, in welche sie sich als Mitglieder einzeichnen können", schwelgte Lassalle und vielleicht glaubte er sogar selbst daran.

Der beredte Intellektuelle war der Hoffnungsträger der Leipziger Versammlung. "Man fühlte deutlich, daß man ganz und gar auf Lassalle angewiesen war und man sich seinen Wünschen unterwerfen mußte, wenn überhaupt etwas zustanden kommen sollte", schilderte Vahlteich rückblickend die Stimmung an jenem Tag. Mit einer Enthaltung wählten die Delegierten Lassalle für fünf Jahre zum Präsidenten des ADAV. Die in Leipzig beschlossenen Statuten hätten ihm erlaubt, "mit dem Vereine nach Belieben zu schalten und zu walten", resümierte Vahlteich. Die zentralistische Organisation war ganz auf den Präsidenten zugeschnitten.

"Nach fünfzehnjährigem Schlummer rief Lassalle - und dies bleibt sein unsterbliches Verdienst - die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland", schrieb Karl Marx über den Arbeiterführer, den er eigentlich nicht sonderlich schätzte. Sein Lob war etwas übertrieben, zumindest legt es Fehleinschätzungen nahe. Die Arbeiterbewegung war bereits aufgewacht, als der bürgerliche Intellektuelle Lassalle sich ihr anschloß.

Ende der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde das politische Klima in Deutschland wieder milder. Nationale und demokratische Richtungen des Bürgertums lebten auf. Die Organisationsbestrebungen des "vierten Standes" wurden ebenso zunehmend reger. In den neuen Arbeitervereinen hatten jedoch überwiegend bürgerliche Liberale das Sagen, die Verbündete für ihren politischen Kurs suchten. Doch schon bald regte sich Widerspruch gegen diese Bevormundung.

Leipzig wurde zu einem wichtigen Zentrum der Emanzipationsbewegung. Unter der Führung Vahlteichs, des Chemikers Dr. Otto Dammer und des Zigarrenarbeiters Friedrich Wilhelm Fritzsche entstand eine Konkurrenzorganisation zum Leipziger Bildungsverein mit seiner bürgerlichen Dominanz, der Verein "Vorwärts". Mit öffentlichen Versammlungen versuchte er, die Arbeiterschaft für unabhängiges politisches Engagement zu gewinnen. Auf einer dieser Massenzusammenkünfte wurde schließlich ein "Central- Comitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter- Congresses" gewählt. Drei Mitglieder dieses Komitees, Dammer, Fritzsche und Vahlteich, schrieben am 4. Dezember 1862 etliche "Zeilen durchaus privater Natur" an Lassalle und baten ihn "sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und die Leitung derselben in die Hand zu nehmen". Eine Rede Lassalles vor Berliner Arbeitern im Jahr 1862, als "Arbeiterprogramm" veröffentlicht, hatte ihm in der Leipziger Arbeiterbewegung Sympathien eingebracht. Vorher war der 1825 geborene Kaufmannssohn aus Breslau als Anwalt von Sophie Gräfin von Hatzfeldt in deren spektakulären Scheidungsprozessen und Verfasser philosophischer Studien bekannt geworden.

Lassalle nahm die Herausforderung aus Leipzig an. Mit seinem "Offenen Antwortschreiben" vom 1. März 1863 legte er ein Aktionsprogramm vor, das zur theoretischen Grundlage des ADAV wurde. Kernforderungen waren das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht und die Schaffung von Produktivassoziationen, die vom Staat mit Krediten finanziert werden sollten. Um diese Ideen zu verwirklichen, schreckte Lassalle als Parteiführer selbst vor einer Zusammenarbeit mit dem der Arbeiterbewegung nicht gerade wohlgesonnenen Otto von Bismarck zurück. Bis zu seinem frühen Tod führte er etliche Gespräche mit dem preußischen Kanzler, was Lassalles Ruf in der Sozialdemokratie nicht unbedingt förderlich war, erst recht, nachdem Bismarck die Arbeiterbewegung mit dem sogenannten Sozialistengesetz zu zerstören versucht hatte. Aber immerhin verwirklichte Bismarck die von den Liberalen abgelehnte Forderung Lassalles nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht. Ihre antiliberale Haltung einte die beiden Persönlichkeiten und ihre Beziehung war offenbar trotz aller ideologischen Differenzen von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. "Unsere Unterredungen haben stundenlang gedauert und ich habe immer bedauert, wenn sie beendet waren", gestand Bismarck 1878 und mutmaßte: "Offenbar hatte er den angenehmen Eindruck, daß ich in ihm einen Mann von Geist sähe, mit dem zu verkehren angenehm war und er seinerseits hatte den angenehmen Eindruck, daß ich ein intelligenter und bereitwilliger Hörer sei. Ich bedaure, daß seine politische Stellung und die meinige mir nicht gestatteten, viel mit ihm zu verkehren, aber ich würde mich gefreut haben, einen ähnlichen Mann von dieser Begabung und geistreichen Natur als Gutsnachbarn zu haben".

Nachdem Lassalle das "Offene Antwortschreiben verfaßt hatte, frohlockte er in einem Brief an die Gräfin Hatzfeldt: "Ist der deutsche Arbeiterstand nicht bis zum Entsetzen träge und schläfrig, so muß dieses Manifest, da es ohnehin in eine bereits vorhandene praktische Bewegung fällt, ungefähr eine Wirkung hervorrufen wie die Thesen an der Wittenberger Schloßkirche."

Die Wirklichkeit war bescheidener. Die Resonanz auf die Planungen für den Arbeiterkongreß blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Die Liberalen mit ihrem Leitstern Franz Schultze- Delitzsch hatten nur gering an Einfluß verloren. Die Pressekampagnen gegen das Offene Antwortschreiben verstärkten diese Tendenz noch. In dieser Situation entschloß sich das Zentralkomitee mehrheitlich, den Kongreß ausfallen zu lassen und statt dessen - entsprechend dem Vorschlag Lassalles - zur Gründung eines Arbeitervereins aufzurufen, dessen Programm das Offene Antwortschreiben sein sollte. Dieses eigenmächtige Vorgehen, ohne Legitimation durch die Wähler des Komitees, führte zu dessen Spaltung in zwei Gruppen.

Die Leipziger Lassalle-Anhänger fanden nur in wenigen Orten Gleichgesinnte. Bis Ende 1864 brachte der ADAV es lediglich auf rund 4 600 Mitglieder. Seinen "Feldherrn" hatte der Verein damals schon verloren. Nach einem Duell wegen einer Frau starb er am 31. August 1864. "Ich habe die Inventur meines Lebens gemacht. Es war groß, wacker, tapfer und glänzend genug. Eine künftige Zeit wird mir gerecht zu werden wissen." So die unbescheidene Bilanz Lassalles auf dem Sterbelager, die aber doch so ganz falsch nicht war. Der bürgerliche Arbeiterführer wurde bald zum Mythos der deutschen Arbeiterbewegung.

Der von ihm mitgegründete ADAV schloß sich auf einem Kongreß vom 23. bis 27. Mai 1875 in Gotha mit der 1869 entstandenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammen.

Astrid Brand, 1988
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