Ludwig Rosenberg war der „Weltmann des DGB“

Als Vorsitzender brachte er alte Klischees ins Wanken

Zwischen Albert Einstein und Ortega y Gasset ist auf einer Seite im Internet sein Name vermerkt: Ludwig Rosenberg. Die illustre Nachbarschaft mit dem deutsch-amerikanischen Physiker und dem spanischen Philosophen verdankt der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes dem ausgeprägten Talent zum Verfassen geistreicher Sprüche. „Für den, der nichts weiß – ist alles klar“, formulierte er, und das ist nicht das einzige Bonmot, mit dem er Zitatsammlungen bereicherte. Gern überraschte er auch mit treffenden Sentenzen anderer, mit Vorliebe gab er Erich Kästner zum Besten. In der Reihe der DGB-Vorsitzenden fällt Ludwig Rosenberg nicht nur durch solche persönlichen Eigenheiten auf: Er war der erste Angestellte in diesem Amt und Jude. An der Spitze des DGB stand er von 1962 bis 1969. Im Jahr 2002 jährte sich der Todestag des am 23. Oktober 1977 Verstorbenen zum 25. Mal, 2003 ist sein 100. Geburtstag Anlass zum Gedenken.

Ludwig Rosenberg wurde am 29. Juni 1903 in Berlin geboren. Sein Vater war Kaufmann, nach dem Besuch des Realgymnasiums folgte der Sohn seinem Beispiel und machte eine kaufmännische Lehre. Als Zwanzigjähriger trat er 1924 in die SPD ein. Im Jahr darauf wurde er Mitglied im Gewerkschaftsbund der Angestellten (GDA) und 1928 fing er als Angestellter bei der Krankenkassenhauptverwaltung des GDA in Berlin an. Das war insofern ungewöhnlich, als es sich bei dem Gewerkschaftsbund der Angestellten um einen Hirsch-Dunckerschen Verband handelte. In der Weimarer Republik waren die Arbeitnehmerorganisationen an verschiedenen politischen Richtungen orientiert, die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften zählten zum Lager der Liberalen, sozialdemokratisch waren die „freien“ Gewerkschaften. Aber die zahlenmäßig ziemlich schwachen Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften waren so liberal, auch Sozialdemokraten unter ihren Angestellten zu dulden und Ludwig Rosenberg war froh, einen Arbeitsplatz zu haben. Trotz des unvorteilhaften Parteibuchs fand der begabte junge Mann im GDA Förderer, 1929 bildete er sich durch den Besuch der Staatlichen Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Düsseldorf weiter und 1931 wurde er Geschäftsführer des GDA; Krefeld, Düsseldorf und Brandenburg/Havel waren Stationen in dieser Position.

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland brachte 1933 für hauptberufliche Gewerkschafter einschneidende Veränderungen. Durch die Zerschlagung ihrer Organisationen verloren sie die Arbeitsplätze, politische Verfolgung zwang viele zum Verlassen der Heimat. Als Jude war Ludwig Rosenberg besonders gefährdet, schon im Frühjahr 1933 floh er nach England. Vor allem mit journalistischer und kaufmännischer Tätigkeit verdiente er sich dort, was er zum Leben brauchte. Während des Krieges war er in der internationalen Abteilung des britischen Arbeitsministeriums beschäftigt, wo er die Arbeitsbeschaffung für deutsche und österreichische Flüchtlinge organisierte. Gegen Ende des Krieges beriet er die Regierung der USA in Gewerkschaftsfragen. Eine neue Heimat fand Ludwig Rosenberg im Ausland nicht, im Exil engagierte er sich für die Zukunft in einem befreiten Deutschland. Er war Mitbegründer der „Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien“.

1946 kehrte Ludwig Rosenberg in die Heimat zurück. Mühsam mussten im zerstörten Deutschland erneut Gewerkschaften aufgebaut werden. Einheitsgewerkschaften sollten es sein – diese Lehre hatten die meisten Funktionäre aus dem düsteren Kapitel der Naziherrschaft gezogen. Parteipolitisch unabhängig sollten sie sein. Als Sozialdemokrat, der bei einem liberalen Verband gearbeitet hatte, stand Ludwig Rosenberg dem Einheitsgedanken schon vor dem Krieg nicht fern. Zunächst half er beim Wiederaufbau einer freien Gewerkschaftsbewegung in der britischen Zone. 1948 wurde er Sekretär im Gewerkschaftsrat der vereinten britischen und amerikanischen Zone. Seine fleckenlose Biografie, seine Sprachkenntnisse, seine diplomatische Art machten Ludwig Rosenberg zum geeigneten Verhandlungspartner für die westlichen Alliierten, so einer wie er konnte Vorurteile gegen Deutsche abbauen.

Auf dem Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 in München wurde Ludwig Rosenberg zum Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand gewählt. Er leitete die Abteilung Ausland, später war er auch für die Wirtschaftspolitik zuständig. In den Medien firmierte er bald als „Außenminister des DGB“, dessen Meinung sogar in der Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer etwas galt. Bei dem CDU-Politiker schimmerte wohl Neid durch: „Irgendwie“, berichtete Ludwig Rosenberg dem Historiker Gerhard Baier, „war Adenauer ärgerlich, daß Hitler so viele Gewerkschafter und Sozialdemokraten ins Ausland gejagt hatte, die sich nun so vorzüglich auskannten und sogar fremde Sprachen beherrschten.“ Der DGB-Mann wusste den Kanzler zu nehmen. Das zeigte sich zum Beispiel, als die Stelle eines Sozialattachés bei einer Botschaft zu besetzen war. Adenauer wollte den von Rosenberg Vorgeschlagenen nicht, der Koalitionspartner FDP mache Probleme, sagte er ihm im Gespräch. Daraufhin entgegnete Rosenberg, es könne ja auch Ärger mit dem DGB geben. Der Kanzler stand auf und gab sich geschlagen: „Rosenberg, dat haben se jut jemacht. Se kriejen Ihren Mann.“

Engagiert vertrat Ludwig Rosenberg die Ziele der Wirtschaftsdemokratie, mit seinen Positionen wurde er in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen. Als „Chefideologe der Gewerkschaftsspitze“ zum Beispiel. Nicht immer wahrten die Medien den journalistischen Anstand: Über den „Rosenberg-Mythos in der DGB-Führung“ schrieb 1954 die „Stuttgarter Stimme“; die üble Anspielung auf den Naziideologen Alfred Rosenberg und sein Werk „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ traf einen Mann, der durch die Verfolgung der Juden viele Familienangehörige verloren hatte.

Seit 1959 war Ludwig Rosenberg Stellvertreter des DGB-Vorsitzenden Willi Richter. Weil dieser nicht mehr für den Bundestag zur Verfügung stand, wollte die SPD Rosenberg für eine Kandidatur gewinnen. Er hätte Aussicht auf einen Posten im Kabinett einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung gehabt. Rosenberg lehnte ab. Sein jüdischer Name könne im Wahlkampf für die SPD von Nachteil sein, meinte er, aus bitterer Erfahrung fürchtete er antisemitische Ressentiments.

Siebzehnte Wahl war Ludwig Rosenberg als Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Wenig charmant schlug Heinrich Hansen von der IG Druck und Papier ihn auf dem ordentlichen Bundeskongress vom 22. bis 27. Oktober 1962 in Hannover für das Amt vor: „... wer also wird der Vorsitzende sein? Versuche, aus dem Kreis der einzelnen Gewerkschaften einen Kollegen hierfür bereitwillig zu finden, ließen sich nicht realisieren. Die Kollegen Vorsitzenden der einzelnen Gewerkschaften sind in ihrer Funktion so stark mit ihrer Arbeit in den einzelnen Gewerkschaften verbunden, daß eine Herauslösung für die Funktion des Vorsitzenden im DGB nicht möglich ist.“ 16 Gewerkschaften gehörten zum DGB; weil deren Chefs den Spitzenposten beim Dachverband unattraktiv fanden, kam Ludwig Rosenberg zum Zuge; ihn vorzuschlagen entschieden sich „einheitlich a l l e“ Gewerkschaftsbosse, was Heinrich Hansen laut Protokoll betonte. Von 411 abgegebenen Stimmen der Delegierten erhielt Rosenberg 373. Der bedankte sich für den Vertrauensbeweis mit für ihn typischer Vorsicht und dem ihm eigenen Witz: „Ich bin kein Freund von großen tönenden Versprechungen oder gar von problematischen Erklärungen für die Zukunft. Ich halte mich mehr an das Wort Erich Kästners: ‚Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es.‘“

Es waren unruhige Gewässer, durch die Ludwig Rosenberg den Deutschen Gewerkschaftsbund zu lotsen hatte, und wenn er auch nicht die erste Wahl war für diese Aufgabe, so erwies er sich doch als gute Wahl. Der DGB hatte auf seinem Bundeskongress 1959 in Stuttgart beschlossen, ein neues Grundsatzprogramm zu entwickeln. Vorbild war die SPD, die sich mit ihrem Godesberger Programm von 1959 als zukunftsfähig empfahl. Die Ausarbeitung eines neuen Programms stellte den DGB vor eine Zerreißprobe. Die Reformer, deren profiliertester Georg Leber, der Vorsitzende der IG Bau-Steine-Erden, war, stießen auf den hartnäckigen Widerstand der Traditionalisten um den IG-Metall-Vorsitzenden Otto Brenner. Vermittler wurden gebraucht, Ludwig Rosenberg war einer. Zwar wurde er zu den Befürwortern eines Modernisierungskurses gerechnet, aber mit seiner verbindlichen Art konnte er Gräben überbrücken. Manche meinten, er habe zu wenig Ecken und Kanten. Georg Leber hämte, er könne wie eine Henne, „auf rohen Eiern tanzen ..., ohne sie zu zerbrechen“. Ludwig Rosenberg aber empfand es nicht „als schändlich, für einen Kompromißler gehalten zu werden“. Als Vorstandsmitglied und später als Vorsitzender des gewerkschaftlichen Dachverbandes bemühte er sich immer um den Ausgleich zwischen den Lagern.

Auf einem außerordentlichen DGB-Kongress wurde 1963 in Düsseldorf ein modernisiertes Grundsatzprogramm beschlossen. Wie die SPD bekannte sich darin auch der DGB zur sozialen Marktwirtschaft, es blieben aber Forderungen nach staatlicher Planung und Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien. Erleichtert bedankte sich Ludwig Rosenberg bei den Delegierten: „Sie haben ein Musterbeispiel dafür gegeben, wie man in Kameradschaft und Sauberkeit Gegensätze auszutragen versteht.“ Über die wesentlichen Streitpunkte war vorher entschieden worden, Rosenberg erinnerte daran: „In Hunderten von Versammlungen, in unzähligen Besprechungen und zahllosen Sitzungen“ habe man „hart und sehr ausführlich um jene Fragen gerungen, in denen selbstverständlich in einer so gewaltigen, großen Organisation, wie wir es sind, nicht immer einheitliche, hundertprozentige, gleichgeschaltete Meinungen bestehen“.

Der Kongress wurde gut vorbereitet, Ludwig Rosenberg legte Wert auf eine straffe Organisation. Er galt als faul, weil er meistens um 16.30 Uhr sein Büro verließ. Wer bis zu der Zeit mit der Arbeit nicht fertig sei, der könne nicht arbeiten, war sein Credo.

Heftig umstritten im DGB war auch die Notstandsgesetzgebung. Die Debatte darüber verzögerte sogar die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms, die für den Bundeskongress im Jahr 1962 vorgesehen war. Der Kongress, auf dem Ludwig Rosenberg zum Vorsitzenden gewählt wurde, wurde geprägt durch die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um einen Entwurf der Bundesregierung. Die Mehrheit der Delegierten lehnte mit 276 gegen 138 Stimmen „jede zusätzliche Regelung des Notstandes und Notdienstes ab, weil beide Vorhaben geeignet sind, elementare Grundrechte, besonders das Koalitions- und Streikrecht sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung, einzuschränken und die demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik zu schwächen“. Georg Leber meinte dagegen, dass es nur noch um das „Wie“, nicht um das „Ob“ gehe. Auf dem Bundeskongress von 1966 wurde in Berlin die Ablehnung der Notstandsgesetzgebung aber noch einmal bekräftigt, mit einem Votum von 251 zu 182. Abgestimmt wurde über einen Antrag der IG Metall, der geschäftsführende DGB-Bundesvorstand hatte für seinen Kompromissvorschlag im Bundesvorstand keine Mehrheit gefunden. Bei der Wahl des Vorsitzenden gewann Ludwig Rosenberg 382 von 432 abgegebenen Stimmen. Auch dieses Konfliktthema beschädigte ihn nicht.

Bei Streitthemen im DGB legte sich Ludwig Rosenberg lieber nicht fest, oder er gab beiden Seiten recht. Eine amüsante Episode schilderte der Schriftsteller Hans Dieter Baroth, sie wurde beim DGB erzählt und mag übertrieben sein, ist aber doch wohl bezeichnend: Während der innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen über die Notstandgesetze tagte der Bundesvorstand in der Hauptstadt Bonn. „Vor der Eröffnung der Tagesordnung in einem Raum der Parlamentarischen Verbindungsstelle sprach zornig Georg Leber auf Ludwig Rosenberg ein und mokierte sich über den rückwärtsgewandten Otto Brenner. ‚Schorsch, du hast recht‘ , hörten einige in der Nähe Stehende. Hiernach redete der norddeutsch kühle Otto Brenner vehement auf den Vorsitzenden des DGB ein und klagte, welch ein politischer Hasardeur Georg Leber sei. ‚Otto, du hast recht‘, soll er auch diesen Monolog beendet haben. Sein Büroleiter stürzte auf den Vorsitzenden zu und kritisierte, er könne doch bei unterschiedlichen Positionen nicht beiden recht geben. ‚Toni, du hast recht‘, das hörten amüsiert andere Vorständler.“

Nach innen wirkte Ludwig Rosenberg befriedend, nach außen repräsentativ. Stets war er makellos gekleidet. Das Fernsehen zeigte einen witzigen, gebildeten Herrn als Vorsitzenden des gewerkschaftlichen Dachverbandes. „Weltmann des DGB“ nannte ihn die Frankfurter Rundschau. Sein Stil brachte alte Klischees über Gewerkschaftsbosse ins Wanken. Das war imagefördernd für die deutschen Gewerkschaften.

Im Ausland konnte Ludwig Rosenberg mit seinen Talenten von 1963 bis 1969 auch als Präsident des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften für ein besseres Ansehen der Deutschen wirken.

Viele Deutsche hatten die braune Ideologie aber noch in den Köpfen. Der antisemitische Teil der Bevölkerung empfand den DGB-Vorsitzenden als eine Provokation. Fast täglich kamen Briefe an den „Juden“ Rosenberg, die seine Mitarbeiter abfingen. Schreiben mit der Anschrift „Alfred Rosenberg“ schickte Ludwig Rosenberg zurück, versehen mit einem Pfeil auf den falschen Namen und der handschriftlichen Ergänzung: „ist in Nürnberg vom Internationalen Gerichtshof verurteilt worden“. Als die Leitung der Bayreuther Festspiele eine Einladung mit diesem Vermerk zurück erhielt, beschwerte sie sich, sie habe den Namen und die Adresse vom dortigen DGB-Kreisversitzenden bekommen.

1969 schied Ludwig Rosenberg aus dem Amt des DGB-Vorsitzenden aus. Mit 74 Jahren starb er 1977 an einem Herzinfarkt, seine Frau Margot überlebte ihn um einige Jahre, Kinder hatte das Ehepaar nicht.

Zum Ärger der Historiker schrieb Ludwig Rosenberg keine Memoiren. Er hatte wohl Skrupel. „Wer ist schon ehrlich genug“, fragte Rosenberg, „seine Fehler und Mängel ebenso offen und rücksichtslos aufzuzeigen, wie er das mit den Fehlern und Mängeln seiner Widersacher hemmungslos tut?“ Statt seiner Erinnerungen verfasste Ludwig Rosenberg im Ruhestand vor allem journalistische Texte. Besonders aus seinen jungen Jahren sind etliche Gedichte erhalten. Diesen Teil der schriftstellerischen Hinterlassenschaft hielt Frank Ahland, der eine Dissertation über Ludwig Rosenberg erarbeitete, für so unterhaltsam, dass er zu Lesungen an der Ruhr-Universität Bochum einlud. Den Titel lieferte ein Gedicht des ehemaligen DGB-Vorsitzenden: „Wenn man mit Edith über die Straße geht ...“ Anklänge an Erich Kästner sind unverkennbar.

Astrid Brand, 2002
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