Deutschland - einig Gewerkschaftsland

Chronik über den Aufbau des DGB im Osten

Teil III - 1991

In Hessen wird bei der Landtagswahl am 20. Januar die SPD stärkste Partei. Sie koaliert mit den Grünen und stellt den Ministerpräsidenten.

Auf einer Klausurtagung am 22. und 23. Januar beschließt der DGB-Bundesvorstand die Annahme eines wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Sofortprogramms für die neuen Bundesländer. Es enthält vor allem kurzfristig zu realisierende Vorschläge an die Politiker. Angesichts der sich von Tag zu Tag verschlechternden ökonomischen Lage in Ostdeutschland und der großen Zahl von Arbeitslosen und Kurzarbeitern dort, müsse schnell gehandelt werden, betont Michael Geuenich, Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes, bei der Vorstellung des Programms am 6. Februar.

Mehr als 200 000 Menschen demonstrieren am 26. Januar in der Bundesrepublik für die Beendigung des Golfkrieges.

Arbeiter und Angestellte der Industriebetriebe im Gebiet der ehemaligen DDR verdienen im Januar durchschnittlich 1667 DM brutto, das entspricht 41,6 Prozent des Verdienstes in den alten Bundesländern.

Narren demonstrieren durch Verzicht: Wegen des Golfkrieges fallen am 11. Februar in den Karnevalshochburgen des Rheinlandes die organisierten Rosenmontagszüge aus.

Am 15. Februar beginnt im Montagewerk der Volkswagen Sachsen GmbH in Mosel bei Zwickau die Fertigung des VW-Golf.

In Sachsen hergestellte Schuhe werden am 19. und 20. Februar im Dresdner Gewerkschaftshaus verkauft. Die Aktion ist Auftakt einer Initiative zum Kauf sächsischer Produkte.

Im Februar und März fordern ehemalige DDR-Bürger auf zahlreichen von den Gewerkschaften organisierten Kundgebungen in Ostdeutschland die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und höhere Löhne. In Leipzig lebt die Tradition der Montagsdemonstrationen wieder auf. Der Übergang zum marktwirtschaftlichen System wird von Massenentlassungen begleitet. Im Mittel sind 1991 in den fünf neuen Bundesländern 912 838 Männer und Frauen als Arbeitslose registriert. Dazu kommt die verdeckte Arbeitslosigkeit. Dank besonderer Vorruhestands- und Kurzarbeiterregelungen, durch Arbeitsbeschaffungs-, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen tauchen Hunderttausende nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Seit Mitte 1991 befindet sich die ostdeutsche Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs, auf dem Arbeitsmarkt ist von dieser Belebung aber kaum etwas zu spüren, die Zahl der Erwerbstätigen nimmt weiter rasant ab.

Im Westen verbessert sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt etwas. Durchschnittlich sind 1991 knapp 1,7 Millionen Arbeitslose gemeldet. Die große Nachfrage aus dem Osten wirkt sich hier positiv aus. Die Exportwirtschaft leidet jedoch unter einer sinkenden Auslandsnachfrage wegen einer Konjunkturschwäche in den wichtigsten Handelspartnerstaaten. Der DGB warnt schon am 12. Juli: "Die Bundesrepublik befindet sich in einer konjunkturellen Abschwächungsphase." Im Herbst sind die Zeichen dafür unübersehbar.

Von Juli an bekommen die Beschäftigen des öffentlichen Dienstes in Ostdeutschland 60 Prozent der entsprechenden Einkommen im Westen der Bundesrepublik. Darauf einigen sich die Tarifparteien am 5. März.

Der DGB-Bundesausschuß beschließt am 6. März die vorläufige Einrichtung von neuen DGB Landesbezirken: Mecklenburg-Vorpommern (mit Sitz in Schwerin), Sachsen (Dresden), Sachsen-Anhalt (Magdeburg), Thüringen (Erfurt). Der Landesbezirk Berlin soll um den Ostteil der Stadt und Brandenburg erweitert werden, aber in der Spree-Metropole bleiben.

Die Bundesregierung verabschiedet am 8. März das sogenannte Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, das mit 24 Milliarden Mark für zwei Jahre die Wirtschaft in den fünf neuen Ländern ankurbeln soll. Das Programm berücksichtigt etliche Forderungen der Gewerkschaften. Es stellt unter anderem Geld zur Verfügung für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für Investitionen von Kommunen und privaten Unternehmen, für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur. Staatlich gefördert wird die ökonomische Entwicklung in Ostdeutschland bereits seit 1990. Die Bundesregierung will vor allem kleine und mittlere Unternehmen für die Aufbauarbeit gewinnen. Solide mittelständische Firmen statt der in der DDR dominierenden Großbetriebe sollen die Wirtschaft prägen. Die Länderregierungen unterstützen diesen Kurs durch eigene Fördermaßnahmen, zum Beispiel für Existenzgründer. Frühzeitig verweisen die Gewerkschaften darauf, daß diese staatlichen Aktivitäten den massiven Verlust von Arbeitsplätzen nicht verhindern können. Es sei auch notwendig, vorhandene "industrielle Kerne" zu erhalten. Angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten in Ostdeutschland findet dieses Argument sogar in den Reihen der CDU immer mehr Befürworter.

Im Frühjahr wird beim DGB das "Initiativprogramm zum Aufbau der Jugendarbeit in den neuen Ländern" entwickelt, der Bundesvorstand beschließt es im April. Die Konzeption ist anspruchsvoll: Die Jugendlichen sollen spüren, daß die Gewerkschaften ihre Interessen nicht nur gegenüber den Arbeitgebern vertreten, sondern Hilfe auch in anderen Lebensbereichen bieten. Eine Kampagne mit dem Motto "Wir fangen schon mal an!" macht die DGB-Gewerkschaftsjugend in Ostdeutschland bekannt. Ihr Aktionsbus tourt durch die neuen Länder, in hoher Auflage werden spezielle Ratgeber verteilt: Themen sind "Bewerben, Ausbildung, Beruf", "Ausbildung, Job, Knete" und "Wohnen, Freizeit, Kultur". Etliche neue Mitarbeiter müssen eingestellt werden, die in zahlreichen Seminaren die notwendige Qualifikation erhalten. Ab 1992 werden Jugendtreffs eingerichtet, die Beratung, außerschulische Bildung, Kulturveranstaltungen und andere Freizeitaktivitäten bieten.

Der Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, wird am 1. April in seinem Düsseldorfer Wohnhaus ermordet. In einem Bekennerschreiben bezichtigt sich ein "Kommando Ulrich Wessel" der "Rote Armee Fraktion" der Tat. Rohwedder galt den Terroristen als herausragender Vertreter des bekämpften politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik. Nachfolgerin von Rohwedder wird am 13. April die CDU-Politikerin Birgit Breuel.

Der DGB vereinbart mit der Treuhandanstalt am 12. April eine Regelung über Sozialplanleistungen, wonach jeder von einem Treuhandunternehmen entlassene Mitarbeiter mindestens eine Abfindung in Höhe von 5000 DM erhält.

Aus der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am 21. April geht die SPD als Sieger hervor. Die CDU rutscht auf den zweiten Platz. SPD und FDP bilden eine Koalition, Rudolf Scharping wird der erste sozialdemokratische Ministerpräsident in diesem Bundesland. Durch das Ergebnis gewinnt die SPD die Mehrheit im Bundesrat.

Am 30. April rollt in den Zwickauer Sachsenring-Automobilwerken der letzte "Trabant" vom Band. Der kleine "Trabi" hat sich gegen die Konkurrenz aus dem Westen nicht behaupten können, auch Ostdeutsche ziehen andere Automarken vor.

Am 1. Mai feiern die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften unter dem Motto "Soziale Einheit in Frieden und Freiheit". Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer spricht auf der Kundgebung in Halle.

Im Mai wirbt die DGB-Jugend in Thüringen mit einer Tour des Infobusses für gewerkschaftliches Engagement.

In Hamburg wird am 2. Juni die Bürgerschaft neu gewählt. Die SPD erreicht knapp die absolute Mehrheit. Da die FDP eine Fortsetzung der Koalition mit der SPD ablehnt, muß der Erste Bürgermeister mit einer Mehrheit von nur einem Sitz regieren.

Zum Runden Tisch lädt für den 5. Juni der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Gerd Gies, Vertreter der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der kommunalen Spitzenverbände, der Treuhand, der Arbeitsverwaltung und der Ministerien. Die Teilnehmer beraten über Strategien zur Bewältigung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise. Unter dem Gies-Nachfolger Werner Münch firmieren die Zusammenkünfte als Konzertierte Aktion. Der DGB hat den Runden Tisch angeregt, mit den Ergebnissen sind die GewerkschafterInnen oft unzufrieden.

Der frühere FDGB-Vorsitzende Harry Tisch wird am 6. Juni vom Landgericht Berlin wegen "Untreue zu Lasten sozialistischen Eigentums" zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

Durch einen 6:2-Erfolg in Köln wird der 1. FC Kaiserslautern am 15. Juni Deutscher Fußballmeister. Am 22. Juni entscheidet der SV Werder Bremen in Berlin das Endspiel um den DFB-Pokal mit einem 4:3-Sieg zu seinen Gunsten.

Die Bundesregierung und der Bundestag müssen von Bonn nach Berlin umziehen. Das beschließt der Bundestag am 20. Juni.

Bis zum 30. Juni 1991 haben sich die DDR-Gewerkschaften aufgelöst oder mit den entsprechenden DGB-Verbänden vereinigt, am selben Tag beendet auch der am 10. Mai 1990 gegründete Provisorische Gewerkschaftsjugendrat seine Tätigkeit.

"Deutsche Aussichten – deutsche Ansichten" – wie sehen Kinder aus Ostdeutschland die Wiedervereinigung?" Gemeinsam mit dem Bund-Verlag stellt der DGB die Kinderwerke in der zweiten Jahreshälfte bis Mitte 1992 in mehreren DGB-Kreisen des Bundesgebiets aus.

Vom 1. Juli an zahlen die Bundesbürger ein Jahr lang einen "Solidaritätszuschlag" von 7,5 Prozent auf die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftssteuer. Er dient zur Finanzierung von Investitionen in Ostdeutschland.

Dem Jubel über die deutsche Einheit ist Ernüchterung gefolgt. Im Westen werden die hohen Kosten für den Aufbau in den neuen Bundesländern beklagt. Im Osten sind die großen Hoffnungen mit der marktwirtschaftlichen Realität konfrontiert worden, die Angleichung der Lebensverhältnisse an das Westniveau dauert länger als erwartet. Enttäuscht sind viele Ostdeutsche auch, weil der Rechtsstaat die Abrechnung mit den Eliten des DDR-Systems nicht nach den Prinzip der Rachejustiz regeln kann. Zur Verunsicherung tragen die Enthüllungen über das Spitzelsystem im SED-Staat bei. Der Nachweis einer Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR veranlaßt einige Politiker zum Rücktritt. Die Probleme der Gegenwart beschäftigen die Menschen jedoch zunehmend mehr als die Aufarbeitung der Vergangenheit.

Für die neuen Länder und Berlin sieht der DGB-Bundesvorstand die Einrichtung von 33 DGB-Kreisen vor, das wird am 2. Juli beschlossen. Die Kreise sind größer geplant als im Westen.

Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung (ABS) sollen Arbeitslosen in den neuen Ländern eine Perspektive bieten. Am 17. Juli verpflichtet sich die Treuhandanstalt in einer Vereinbarung mit Gewerkschaften, den Arbeitgeberorganisationen und den Regierungen der neuen Bundesländer, mit Ausnahme von Thüringen, zur Beteiligung an diesen Gesellschaften. Dabei wurde auch die Grundlage für eine Vernetzung dieser ABS-Gesellschaften über sogenannte Trägergesellschaften geschaffen. Sie können sich auf Länderebene bilden (TGL), in kleineren Regionen (TGR) und in einzelnen Sektoren der Wirtschaft (TGS). Bis Ende 1991 entstehen 333 ABS-Gesellschaften, die bald eine Erfolgsbilanz aufweisen. 61 Prozent der Männer und Frauen, die im November 1991 ABS-Teilnehmer sind und innerhalb des nächsten Jahres ausscheiden, finden einen regulären Arbeitsplatz.

Die Preußenkönige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., der Große, kommen wieder nach Potsdam. Seit 1952 standen die Särge mit ihren Leichen auf der Stammburg der Hohenzollern in Hechingen (Baden-Württemberg), am 17. August um Mitternacht werden die sterblichen Überreste von Friedrich, seinem testamentarischen Willen entsprechend, auf der Terrasse von Schloß Sanssouci beigesetzt, Friedrich Wilhelm erhält einen Platz in der Friedenskirche des Schloßparks.

DGB-Funktionäre aus Sachsen treffen sich am 23. August in Warschau mit Solidarnosc-Vertretern aus der Region Jelenia Gora. Die Begegnung ist von der Friedrich-Ebert-Stiftung vermittelt worden. Der Kontakt bricht nicht ab. Die sächsischen und die polnischen GewerkschafterInnen aus dem Grenzgebiet haben ähnliche Probleme, vor allem die wachsende Arbeitslosigkeit. Noch 1991 nehmen sie Verbindung zur tschechischen Gewerkschaftsbewegung auf, um sich über gemeinsame Aktivitäten im Dreiländereck zu verständigen.

Seit Anfang September kommt es immer öfter zu Überfällen auf Ausländer. Vor allem Asylbewerberheime werden von Rechtsradikalen angegriffen, gelegentlich unter dem Beifall von Anwohnern. Der Verfassungsschutzbericht für 1991 beziffert die fremdenfeindlichen Straftaten Rechtsextremer auf 2 598. Angeheizt wird die ausländerfeindliche Stimmung durch die politische Diskussion, wie der zunehmende Strom von Asylbewerbern gestoppt werden könnte. Tausende demonstrieren in der Bundesrepublik gegen den Fremdenhaß.

Auch Mütter haben ein Recht auf Arbeit – Kindertagesstätten sollen ihnen die Sorge um die Sprößlinge während der Arbeitszeit abnehmen. Die Gewerkschaften werben in den neuen Bundesländern für Kindergartengesetze, die diesen Grundsatz berücksichtigen. In Schwerin koordiniert der DGB die Vorbereitungen für ein Familienfest, das auf die Forderung nach Kinderbetreuungsangeboten aufmerksam machen soll. Der zur Feier am 8. September eingeladene Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern, Oswald Wutzke, findet mit seinen Vorstellungen wenig Anklang bei den Eltern.

Auf einer Kreisdelegiertenversammlung wird am 21. September in Zwickau der erste DGB-Kreis in den neuen Bundesländern gegründet. Das historische Ereignis in der Gewerkschaftsgeschichte feiert auch der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer, der in der Versammlung über die gewerkschaftlichen Aufgaben in Ostdeutschland referiert. Er wünscht sich Engagement aller Mitglieder: "Im Betrieb ist die Gewerkschaft in erster Linie keine Dienstleistungsorganisation, sondern wir müssen das Bewußtsein vermitteln: Gewerkschaft ist das, was Du daraus machst!" Bei der Wahl des Kreisvorsitzenden stellen sich der amtierende DGB-Chef von Zwickau, Werner Schuh, und Sabine Zimmermann dem Votum der Delegierten. Schuh erhält 46 Stimmen, seine Gegenkandidatin acht. Bis zum 14. März 1992 werden in Sachsen noch sieben weitere Kreise konstituiert: Chemnitz (Vorsitzender: Jürgen Stäbener), Dresden (Vorsitzender: Rolf Neher), Erzgebirge (Vorsitzender: Heinz Uhlig), Leipzig (Vorsitzende: Edda Möller), Ostsachsen (Vorsitzender: Bernhard Sonntag), Riesa (Vorsitzender: Michael Brunner) und Vogtland (Vorsitzender: Günter Groß).

Bei den Wahlen zur Bremer Bürgerschaft am 29. September verliert die SPD ihre absolute Mehrheit. Als stärkste Partei in einer "Ampelkoalition" mit der FDP und den Grünen stellt sie weiterhin den Bürgermeister.

Am 30. September stirbt im Alter von 69 Jahren der Nachrichtensprecher Karl-Heinz Köpcke. Als "Mister Tagesschau", der jahrzehntelang regelmäßig ab 20 Uhr im ARD-Programm Neues vom Tage präsentierte, war er ost- und westdeutschen Zuschauern vertraut.

Für die Mieter in den neuen Bundesländern ist es ein Schock: Im September zahlen sie noch durchschnittlich 1 Mark pro Quadratmeter für ihre Unterkunft, seit dem 1. Oktober müssen die meisten von ihnen mehr als doppelt soviel aufbringen. Auf die erste Grundmietenverordnung folgen in den nächsten Jahren weitere gesetzlich geregelte Erhöhungen. Erhaltung und Sanierung des Wohnungsbestandes verschlingen weit mehr Geld als die in der DDR üblichen Mieten einbrachten. Sonderregelungen beim Wohngeld sollen die Belastungen der Ostbürger abmildern. Der DGB macht kontinuierlich auf die Probleme des Wohnungsmarktes in Ost- und Westdeutschland aufmerksam. Er fordert mehr staatliche Fördermittel für preisgünstige Wohnungen.

Vom 1. bis zum 10. Oktober tourt die DGB-Jugend mit einem Infobus durch Sachsen-Anhalt. In Bitterfeld, Dessau, Halle, Magdeburg und Merseburg versuchen die GewerkschafterInnen mit jungen Arbeitnehmern ins Gespräch zu kommen.

Der DGB-Bundesvorstand entscheidet am 8. Oktober über die Konstituierung der Landesbezirke in den neuen Ländern. Weil die Organisation gestrafft und die Satzung deshalb verändert werden soll, gelten im Osten vorerst andere Regelungen als in den westlichen Landesbezirken. Außer dem Landesbezirksvorsitzenden soll es keine weiteren gewählten hauptamtlichen Vorstandsmitglieder geben. Der Landesbezirk Berlin-Brandenburg ist eine Ausnahme, hier wurden die Westberliner DGB-Strukturen eingebracht.

Ein dauerhaftes "Bündnis der Vernunft gegen Ausländerfeindlichkeit" schmiedet der DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg in den ersten Oktobertagen. Ein breites Spektrum gesellschaftlicher Kräfte schließt sich der DGB-Initiative an: Die Kirchen sind dabei, die jüdische Gemeinde zu Berlin, verschiedene Wohlfahrtsverbände, der Landessportbund Berlin, die Vereinigung der Unternehmensverbände von Berlin und Brandenburg, auch die Regierungschefs der beiden Länder und etliche andere Organisationen. Die Parteien sind nicht zur Teilnahme aufgefordert worden. Mit einem Aufruf zur "Wiederherstellung des inneren Friedens und zur Wahrung der Würde des Menschen" präsentiert sich das Bündnis am 16. Oktober auf einer Pressekonferenz in Berlin der Öffentlichkeit. Unter dem Motto "Gemeinsam für Ausländer" werden weitere Aktivitäten vorbereitet. Mit Plakaten, Aufklebern, Anzeigen, Hörfunk- sowie Fernsehspots und Veranstaltungen kämpft das Bündnis gegen den Haß auf Fremde.

Seit dem November hat der DGB-Landesbezirk Mecklenburg-Vorpommern Kontakt zu der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in der Nachbarregion. Die Beziehungen werden in den folgenden Jahren weiter ausgebaut.

In Dresden eröffnet die DGB-Jugend im November ein Mädchen- und Frauenbegegnungszentrum.

Auf sieben Kreisdelegiertenversammlungen werden in der Zeit vom 7. November 1991 bis zum 8. Februar 1992 die DGB-Kreise in Sachsen-Anhalt konstituiert. Im Kreis Dessau erhält Bruno Drexelius das Amt des Vorsitzenden, im Kreis Halberstadt kommt mit Doris Flückiger eine Frau an die Spitze, ebenso im Kreis Halle, wo sich die Delegierten für Gudrun Ecker entscheiden, im Kreis Magdeburg votieren sie für Gerd Bruder, im Kreis Naumburg für Johannes Krause, im Kreis Sangerhausen wird Dr. Elisabeth Martin gewählt, im Kreis Stendal Hermann Lomp.

Die DGB-Jugend Sachsen steuert mit einem Infobus Berufsschulen und andere Ausbildungsstätten in Zwickau, Chemnitz, Görlitz, Bautzen, Dresden, Oschatz und Leipzig an, um vor Ort mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.

Die erste Kreisdelegiertenkonferenz in Thüringen begründet am 16. November den DGB-Kreis Gotha, Dieter Lasar wird Vorsitzender. Bis zum 14. Dezember entstehen im Land fünf weitere Kreise: der Kreis Erfurt mit Georg Schleichert an der Spitze, der Kreis Gera, der von Dietmar Härtel geleitet wird, der Kreis Jena mit Gottfried Christmann im höchsten Wahlamt, der Kreis Nordhausen mit dem Vorsitzenden Ulrich Hannemann und der Kreis Suhl, wo die Delegierten Thomas Schmidt zum Vorsitzenden wählen.

Pendler entlasten den ostdeutschen Arbeitsmarkt. Vom November 1990 bis zum November 1991 erhöht sich die Zahl der in den alten Bundesländern einschließlich West-Berlin arbeitenden Erwerbstätigen mit Wohnsitz in den neuen Bundesländern oder Ost-Berlin um rund 340 000 auf ungefähr 540 000, darunter sind fast 200 000 Ostberliner, die im Westen der einstmals geteilten Stadt einen Job gefunden haben.

In Mecklenburg-Vorpommern werden im Dezember 1991 sowie im Januar und Februar 1992 die DGB-Kreise konstituiert. In Neubrandenburg wählt die Kreisdelegiertenversammlung Peter Hahn zum Vorsitzenden, in Rostock erhält Reinhard Knisch dieses Amt, in Schwerin ist es Thomas Fröde und in Stralsund Frerich Rüst.

Den Nobelpreis für Medizin und Physiologie erhalten am 10. Dezember die deutschen Wissenschaftler Erwin Neher und Bert Sakmann.

In der DDR arbeiteten vor der Revolution ungefähr 850 000 Menschen in der Landwirtschaft, Ende 1991 werden in den neuen Bundesländern nur noch 300 000 Beschäftigte des primären Sektors gezählt. Die riesigen "landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" (LPG) sind aufgelöst oder in Genossenschaften westlichen Typs bzw. Kapitalgesellschaften überführt worden. Auch kleinere Privatbetriebe sind entstanden. Die Produktivität steigt, der Abbau von Arbeitsplätzen wird fortgesetzt.

Auf den Tarifexperten der DGB-Gewerkschaften lasten hohe Erwartungen der Mitglieder. Sie sollen Arbeitsplätze sichern und für eine zügige Anpassung der Erwerbseinkommen an das Westniveau sorgen. Die manteltarifvertraglichen Regelungen sowie die Lohn- und Gehaltsstrukturen müssen vereinheitlicht werden. Grundsätzlich haben sich die Tarifparteien auf die Übertragung des westdeutschen Tarifsystems geeinigt, in der Praxis leisten die Arbeitgeber hartnäckigen Widerstand, zudem ist ihr Organisationsgrad teilweise sehr niedrig, was die Umsetzung der Tarifverträge erschwert.. Und die Wirtschaftsmisere in den neuen Ländern ist nicht gerade eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Tarifpolitik. Aber die Ergebnisse sind durchaus ansehnlich. In etlichen Tarifbereichen werden Stufenabkommen vereinbart, die eine schrittweise Anpassung der monatlichen Grundvergütungen an das Westniveau vorsehen. Im Ostberliner Gebäudereinigerhandwerk werden ab dem 1. Mai 1991 bereits 100 Prozent gezahlt. Beim Vergleich der Grundvergütungen pro Stunde kommen die Beschäftigten in den neuen Ländern auf 43 bis 100 Prozent des Westverdienste, in der Mehrzahl auf 50 bis 60 Prozent. Auf den Monat umgerechnet sieht das Verhältnis wegen der längeren Wochenarbeitszeit günstiger aus. Über die Lohn- und Gehaltssteigerungen hinaus werden weitere Verbesserungen erreicht. Das Tempo ist sehr unterschiedlich, in prosperierenden Branchen sind die Arbeitgeber eher zur schnellen Angleichung bereit.

Die DGB-Gewerkschaften zählen am Jahresende in Ost- und Westdeutschland ungefähr 11,8 Millionen Mitglieder. 33 Prozent sind Frauen. In den alten Bundesländern kamen sie im Vorjahr auf 24,4 Prozent, obwohl sie dort rund 41 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stellten. In den neuen Bundesländern sind die Frauen fast genauso häufig wie die Männer organisiert und außerdem ist Frauenerwerbsquote höher.

Astrid Brand, 1996
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