Deutschland - einig Gewerkschaftsland

Chronik über den Aufbau des DGB im Osten

Teil V - 1993

Die zwölf in der europäischen Gemeinschaft vereinten Staaten verfügen seit dem 1. Januar über einen gemeinsamen Binnenmarkt. Vier "Freiheiten" werden weitgehend verwirklicht: freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.

Eine Neuregelung des Arbeitsförderungsgesetzes soll Jobs schaffen. Seit Anfang 1993 können gemäß Paragraph 249 h für Arbeitsplätze in den Bereichen Umwelt, soziale Dienste und Jugendhilfe Lohnkostenzuschüsse gewährt werden. Das geschieht aber nur dann, wenn bei voller Arbeitszeit ein "angemessen niedrigeres" Arbeitsentgelt gezahlt wird oder 80 Prozent der tariflichen Arbeitszeit nicht überschritten werden. Die Gewerkschaften lehnen die staatliche Lohnleitlinie als Eingriff in die Tarifautonomie ab.

Erich Honecker sucht Zuflucht in Chile. Am 14. Januar bringt ein Flugzeug den früheren Vorsitzenden des DDR-Staatsrates und SED-Generalsekretär in den lateinamerikanischen Staat; dort leben seine Frau und seine Tochter. Seit dem 12. November 1992 hatte Honecker sich vor dem Berliner Landgericht zu verantworten. Wegen einer Krebserkrankung wurde er als verhandlungsunfähig erklärt und kurz vor der Abreise nach Chile aus der Haft entlassen.

Am 20. Januar entscheidet sich der DGB-Bundesvorstand auf seiner Klausurtagung in Bad Breisig für zwei Vorschläge zur Reform des Dachverbandes: Den Delegierten des DGB-Kongresses von 1994 soll empfohlen werden, einer Verkleinerung des Geschäftsführenden Bundesvorsstandes von acht auf fünf Mitglieder zuzustimmen und die Reduzierung der Geschäftsführenden Landesbezirksvorstände von drei auf zwei zu billigen. In den ostdeutschen Landesbezirksvorständen mit Ausnahme von Berlin-Brandenburg gibt es bis dahin nur eine gewählte Person, den Vorsitzenden.

Gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit engagiert sich das Hamburger Thalia Theater am 30. und 31. Januar. Der 60. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung ist ein passender Anlaß. Lesungen und Konzerte sollen ein Zeichen setzen. Die Einnahmen der Veranstaltungen erhält UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.

"Motzki" ärgert Ost- und Westdeutsche. Friedhelm Motzki ist der "Held" einer Fernsehserie, deren Ausstrahlung am 2. Februar beginnt. Autor Wolfgang Menge wollte die Spießbürger in Ost und West karikieren, aber vor allem Menschen aus den neuen Bundesländern fühlen sich verunglimpft.

Zum dritten Mal nacheinander wird die Erfurterin Gunda Niemann am 7. Februar Eisschnellaufweltmeisterin im Großen Vierkampf.

Ein Kühlschrank, der Umweltbewußte nicht kalt läßt: Das Modell eines ostdeutschen Herstellers zählt zu den beeindruckendsten Neuheiten auf der Hausgerätemesse "Domotechnica", die am 16. Februar in Köln eröffnet wird. Als Kältemittel werden bei diesem Kühlschrank als Ersatz für die Fluorchlorkohlenwasserstoffe umweltverträglichere
Substanzen eingesetzt. Am 21. Juni erhält die Firma Foron den Deutschen Umweltpreis für diese Leistung.

Das Gewandhausorchester in Leipzig mit seinem berühmten Kapellmeister Kurt Masur feiert am 11. März sein 250jähriges Bestehen mit der Aufführung einer für diesen Anlaß komponierten "Gewandhaussinfonie" von Siegfried Matthus.

Die Regierungsparteien, die SPD und die Regierungen der Bundesländer einigen sich am 13. März über die Grundlagen für einen "Solidarpakt" zur Finanzierung des Aufbaus in Ostdeutschland und zur Sicherung der öffentlichen Haushalte. Am 27. Mai beschließt der Bundestag dementsprechend mit den Stimmen der Koalition und der SPD das Föderale Konsolidierungsprogramm, am nächsten Tag wird es vom Bundesrat einstimmig gebilligt. Der Solidarpaktplan sieht vor, daß ab 1995 jährlich über 100 Milliarden Mark vom Westen in den Osten fließen. Der DGB bemängelt, daß auch durch dieses Programm Bezieher kleinerer Einkommen stärker belastet würden als Großverdiener.

"Feuer nach Bonn" tragen Stahlarbeiter des Ruhrgebiets zum Sitz der Bundesregierung. In der Nacht zum 24. März beginnt unter diesem Motto in Dortmund ein Protestmarsch zum Rhein. Die Arbeiter wollen damit für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren. In der Stahlindustrie des Reviers stehen Entlassungen an, die Unternehmen Hoesch und Krupp haben eine Reduzierung ihrer Belegschaften angekündigt. Am 26. März verlangen auf einer Kundgebung im Bonner Hofgarten 100 000 Menschen Unterstützung von der Bundesregierung. Durch die Stillegung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen und weiteren Stellenabbau gehen 1993 mehrere Tausend Arbeitsplätze verloren.

Von der Wiege bis zur Bahre begleitet das sozialpolitische Engagement der Gewerkschaften jene Menschen, die Fürsprecher brauchen. Die Diskussion um die Pflegeversicherung lenkt 1993 das Interesse besonders auf die Älteren, der DGB entwickelt Konzepte für die soziale Sicherheit in dieser Lebensphase, dabei geht es jedoch nicht nur um die finanzielle Versorgung, sondern ganz allgemein um "Lebensqualität im Alter", gemäß dem Titel einer Veranstaltung für Seniorenvereinigungen und -arbeitskreise, vor allem aus den neuen Ländern, am 30. März in Potsdam. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Dr. Ursula Engelen-Kefer wirbt dort für eine differenzierende Betrachtungsweise, denn die Gruppe älterer Menschen sei nicht homogen. Zudem müßten die Veränderungen der Sozialbeziehungen bedacht werden. Es wählten immer mehr Menschen Lebensformen außerhalb der traditionellen Kleinfamilie. Noch sei es ein Zukunftsproblem, wie diese Menschen ihren Ruhestand gestalteten. In neue Konzepte für das Leben im Alter sei es jedoch einzubeziehen.

Versprochen – gebrochen. Die Arbeitgeberverbände der ostdeutschen Metall- sowie der Eisen- und Stahlindustrie kündigen rechtswidrig bestehende Tarifverträge zum 31. März. Ein in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung beispielloser Schritt. 1991 wurde vereinbart, die Löhne stufenweise bis 1994 an das Tarifniveau im Westen anzupassen, das soll nun nicht mehr gelten. Am 3. Mai beginnt der Ausstand, drei Wochen später nehmen die letzten Streikenden ihre Arbeit wieder auf; der Angriff auf die Tarifautonomie ist abgewehrt worden. Angesichts der schlechten Wirtschaftslage in den neuen Bundesländern geben sich die IG Metall-Mitglieder aber mit einem Kompromiß zufrieden. Westlöhne soll es erst 1996 geben.

Die Gewerkschaften überschreiten Grenzen. Seit 1991 hat der DGB-Landesbezirk Sachsen Kontakt zu dem polnischen Gewerkschaftsbund NSZZ Solidarnosc, Wojewodschaft Jelenia Gora und der nordböhmischen Gewerkschaftskammer CM KOS. Am 17. April gründen die drei im polnischen Szklarska Poreba den Interregionalen Gewerkschaftsrat "Elbe/Neiße (Nordböhmen/Schlesien/Sachsen)". Dieser IGR ist der erste an der Ostgrenze der Europäischen Gemeinschaft und der erste, der Regionen außerhalb der EG umfaßt. Zum Präsidenten wird der DGB-Landesbezirksvorsitzende von Sachsen, Hanjo Lucassen, gewählt.

Die Angriffe von Arbeitgebern und konservativen Politikern auf die Tarifpolitik und die Forderungen nach "Sozialabbau" kontert der DGB im Frühjahr mit seiner "Aktion Gegenwehr". Mit vielen Aktivitäten auf Bundes-, Landes- und Kreisebene gehen GewerkschafterInnen in die Offensive. Am 24. April versammeln sich in Dortmund, Hamburg, Köln, Leipzig, Nürnberg und Potsdam rund 230 000 Menschen, um gegen die Attacken auf Tarifverträge und die Tarifautonomie zu protestieren. Zur Kundgebung in Potsdam, wo der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer auftritt, sind mit 7 Sonderzügen und fast 180 Autobussen GewerkschafterInnen aus mehreren Landesbezirken angereist. Weil in Bonn neue sozialpolitische Zumutungen angekündigt werden, setzt der DGB die Aktion länger als ursprünglich geplant fort.

"Zeichen setzen: Für Gleichberechtigung, Toleranz und Gerechtigkeit" – unter diesem Motto stehen die DGB-Veranstaltungen am 1. Mai.

Die Geschichte der Berliner Gewerkschaftshäuser bis zu ihrer Besetzung durch die Nationalsozialisten dokumentiert der DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg mit einer Ausstellung im DGB-Haus an der Keithstraße. Am 2. Mai 1933 nahmen die brauen Horden republikweit die Immobilien des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Besitz. Die vom Verein zum Studium sozialer Bewegungen gestaltete und von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Ausstellung vermittelt zum 60. Jahrestag dieses Ereignisses bis Ende Mai 1993 die Tradition der Gewerkschaftshäuser in der Bundeshauptstadt. Mehr als 30 Gewerkschaftshäuser des Dachverbandes und seiner Mitglieder gab es in Berlin 1933, sie waren nicht nur Verwaltungsbauten, sondern auch Herbergen und Arbeiterbildungsstätten. Einige von ihnen entwarfen berühmte Architekten, wie Erich Mendelsohn und Walter Gropius. Nach dem zweiten Weltkrieg erhielt der DGB als Nachfolger des ADGB in Westdeutschland und West-Berlin die Gewerkschaftshäuser zurück, die Sowjets übergaben sie an den FDGB, der sich zur kommunistischen Richtungsgewerkschaft entwickelte. Noch vor der deutschen Vereinigung löste sich der FDGB auf, der Staat vereinnahmte sein Vermögen. Weil sich der parteipolitisch unabhängige DGB nicht als Nachfolger des FDGB versteht, werden ihm auch die von Gewerkschaftsbeiträgen bis 1933 errichteten Immobilien vorenthalten.

Mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit votiert am 26. Mai der Bundestag für eine Grundgesetzänderung, die das Asylrecht einschränkt. Nach der neuen Regelung haben zum Beispiel Asylbewerber, die über sogenannte sichere Drittstaaten einreisen – als solche gelten zum Beispiel alle Nachbarländer – keinen Rechtsanspruch auf die Gewährung von Asyl.

Die Feindseligkeiten gegen Ausländer erreichen am 29. Mai in Deutschland einen neuen Höhepunkt: Ein Brandanschlag auf ein Haus in Solingen kostet fünf türkische Mädchen und Frauen das Leben, mehrere Menschen werden verletzt. In der Öffentlichkeit wird diskutiert, ob auch Politiker der etablierten Parteien mitschuldig sind an solchen Exzessen. Einige Parlamentarier hätten in der Asyldebatte den Ausländerhaß geschürt.

Bundesweit verteilt der DGB am 1. Juni ein Flugblatt zum Thema "Pflegeversicherung". Der Plan zur Gründung einer solchen Versicherung wird begrüßt. Die Vorschläge zur Finanzierung stoßen dagegen teilweise bei Gewerkschaftern auf wenig Gegenliebe. Bekämpft wird vor allem die Einführung von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung für kranke Arbeitnehmer.

Durch einen 3:0-Sieg über den VfB Stuttgart entscheidet der SV Werder Bremen am 5. Juni die Deutsche Fußballmeisterschaft zu seinen Gunsten. Das Endspiel um den DFB-Pokal gewinnt am 12. Juni Bayer Leverkusen gegen die Amateure von Hertha BSC 1:0.

Vielfältige Lösungsvorschläge für vielfältige Probleme präsentiert der DGB am 7. Juni unter dem Titel: "DGB-Programm: Rezession/West bekämpfen – Aufschwung/Ost sichern – öffentliche Finanzbasis abstützen – europäisch handeln".

Die SPD wagt mehr Demokratie. Erstmals können alle Sozialdemokraten direkt über ihren Vorsitzenden abstimmen. Am 13. Juni müssen sie sich zwischen Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul entscheiden. 56,6 Prozent der Mitglieder beteiligen sich an der Befragung, mit 40,3 Prozent der Stimmen landet Scharping auf dem ersten Platz. Ein Sonderparteitag bestätigt das Votum der SPD-Basis.

Eine Aktion der Bundesgrenzschutzsondereinheit GSG-9 und des Mobilen Einsatzkommandos der Polizei sorgt für innenpolitischen Sprengstoff. Die Beamten wollen am 27. Juni auf dem Bahnhof von Bad Kleinen in Mecklenburg-Vorpommern die mutmaßlichen Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Elisabeth Hogefeld festnehmen, Grams und ein GSG-9-Beamter werden dabei erschossen. Zeugenaussagen und die Obduktion des Terroristen nähren den Verdacht, er sei nicht aus Notwehr, sondern vorsätzlich getötet worden. Ermittlungspannen legen Vertuschungsabsichten nahe. Am 4. Juli übernimmt Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) die politische Verantwortung und tritt zurück. Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wird zwei Tage später in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

Das 1950 gesprengte Stadtschloß in Berlin-Mitte steht wieder – als Kulisse. Befürworter des Wiederaufbaus haben zwischen dem Palast der Republik und dem Kronprinzenpalais ein Gerüst in Originalgröße errichten und mit bemalten Stoffbahnen verkleiden lassen. Am 30. Juni wird der Aufbau mit einem Volksfest gefeiert, 100 Tage ist die Illusion zu bestaunen.

Die Arbeitsplatzvernichtung in der ostdeutschen Industrie hat ein Rekordniveau erreicht. Für den Juni werden statistisch 47 Industriebeschäftigte je 1000 Einwohner ermittelt, Anfang 1991 waren es noch 132. Der Industriebesatz im Gebiet der ehemaligen DDR liegt damit niedriger als in den wirtschaftlich wenig entwickelten EG-Staaten Irland, Griechenland und Spanien. In Westdeutschland ist die Zahl der Industriebeschäftigten im selben Zeitraum von 115 auf 108 gesunken.

Die Deutsche Post schafft die postalische Vereinigung von Ost und Westdeutschland erst am 1. Juli. Seitdem ist ein fünfstelliges Postleitzahlensystem gültig, vorher wurden ein "O" oder ein "W" in die Adresse eingesetzt.

Die deutsche Tennisspielerin Steffi Graf gewinnt am 3. Juli zum fünften Mal das Tennisturnier in Wimbledon.

Als am 8. August in Sheffield die Schwimmeuropameisterschaften zu Ende sind, ist die die 15jährige Berlinerin Franziska van Almsick um sechs Goldmedaillen und eine Auszeichnung in Silber reicher und damit erfolgreichste Teilnehmerin.

Im brandenburgischen Flecken Zechlin eröffnet der DGB am 11. August die erste Jugendbildungsstätte im Gebiet der ehemaligen DDR. Das langgestreckte Gebäude am Schwarzen See wurde als Rohbau übernommen, es sollte Ferienheim des VEB Bauelemente Hennigsdorf sein. Ungefähr 80 Seminarteilnehmer können an dem idyllischen Ort untergebracht werden – überwiegend in Zweibettzimmern mit separater Naßzelle. Von der Einrichtung profitiert auch die Gemeinde Flecken Zechlin. Die Bildungsstätte bietet einige Arbeitsplätze und der Bürgermeister ist erleichtert, "daß endlich jemand hier eingezogen ist, dann fällt das Heim nicht wie andere dem Vandalismus zum Opfer".

"Wir danken Euch" – Mit diesen Worten auf einem großen Transparent verabschieden sich am 22. August bei der Abschlußfeier der Leichtathletikweltmeisterschaft die Sportler vom Publikum in Stuttgart. Die Fairneß und Begeisterungsfähigkeit der Zuschauer werden auch in den internationalen Medien gelobt.

Der DGB und seine Gewerkschaften erhalten einen Teil des 1933 von den Nationalsozialisten enteigneten Eigentums zurück. Um ein langdauerndes Gerichtsverfahren zu vermeiden schließt der DGB am 24. August mit ... einen Vergleich, ... (?)

Der mit 25 000 DM dotierte Kulturpreis des DGB wird am 1. September zu gleichen Teilen dem ostdeutschen Maler, Zeichner und Grafiker Wolfgang Petrovsky und der Kölner Vereinigung "AG Arsch huh e. V.". Neben dem künstlerischen Ausdrucksvermögen der Preisträger wird deren gesellschaftspolitisches und soziokulturelles Engagement gewürdigt. Petrovsky setze mit seiner Arbeit ein Zeichen der Ermutigung und Hoffnung für die Menschen in den neuen Bundesländern. Die AG Arsch huh e. V. mobilisiere Zivilcourage gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Der sächsische Justizminister Steffen Heitmann soll den höchsten Rang in der Bundesrepublik erhalten. Das wünscht sich jedenfalls Bundeskanzler Helmut Kohl. Im September stellt sich sein Favorit auf dem CDU-Bundesparteitag vor, im Oktober wird er als CDU-Anwärter für die Bundespräsidentenwahl im Mai 1994 nominiert, im November wirft der Kandidat das Handtuch und zieht seine Kandidatur zurück. Mit seinen Äußerungen zur deutschen Vergangenheit, zur EG und zur Rolle der Frauen hat er in der Öffentlichkeit Zweifel an seiner Eignung für das angestrebte Amt aufkommen lassen. Die CDU nominiert als neuen Kandidaten den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog.

ZAK informiert. Am 12. und 19. September läßt der DGB-Landesbezirk Mecklenburg-Vorpommern je 400 000 Exemplare der "Zeitung An der Küste" verteilen. ZAK klärt auf über den Bonner "Sozialabbau" und macht die Gegenvorschläge des DGB publik.

In Hamburg müssen die Bürger am 19. September über die Zusammensetzung der Bürgerschaft entscheiden. Die Wahl im Jahr 1991 wurde vom Verfassungsgericht der Hansestadt wegen des undemokratischen Verfahrens der Kandidatenaufstellung bei den Christdemokraten für ungültig erklärt. Die CDU verliert 10 Prozent der Stimmen, aber auch die SPD büßt etliche Prozentpunkte und ihre absolute Mehrheit ein. Sie arrangiert sich mit der neu ins Parlament gewählten STATT Partei und stellt weiterhin den Bürgermeister.

Mit spontanen Arbeitsniederlegungen, Besetzungen von Schachtanlagen und Straßenblockaden protestieren Zehntausende Bergleute am 21. und 22. September gegen drohende Zechenschließungen.

Viel Geld wurde verschwendet. Für Berlin endet die Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2000 mit einem Desaster. Mit immensen Summen sollte das Internationale Olympische Komitee zum Votum für die Bundeshauptstadt gebracht werden, vergeblich. Sydney macht das Rennen, Peking scheitert knapp. Spree-Athen geht kläglich unter, als am 23. September über den Austragungsort abgestimmt wird. Die Berliner kümmert es wenig, die Bewerbung ist unpopulär angesichts der Probleme in der wiedervereinigten Stadt.

Auf Einladung des DGB-Landesbezirks Mecklenburg-Vorpommern, der Hans-Böckler- und der Friedrich-Ebert-Stiftung treffen sich am 13. und 14. Oktober in Warnemünde Vertreter der Ostseeanrainerstaaten. GewerkschafterInnen, Wissenschaftler und Repräsentanten der Regierungen diskutieren auf der Konferenz strukturpolitische Projekte.

Bei der Wahl zum Kreisvorsitzenden in Erfurt setzt sich am 23. Oktober Hans-Herrmann Hoffmann gegen den bisherigen Amtsinhaber Georg Schleichert durch.

Am 26. Oktober wird Erich Mielke, der ehemalige DDR-Minister für Staatssicherheit, in Berlin wegen Beteiligung an der Ermordung von zwei Polizisten im Jahr 1931 zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Über 100 000 Bauarbeiter demonstrieren am 29. Oktober in Bonn gegen die geplante Abschaffung des Schlechtwettergeldes. Die Bundesregierung verschiebt die Streichung.

Am 1. November tritt der Vertrag von Maastricht in Kraft. Aus der Europäischen Gemeinschaft wird die Europäische Union. Zu ihren Zielen gehören der Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik sowie die Schaffung einer Währungsunion.

Auf die Einführung einer Vier-Arbeitstage-Woche einigen sich die IG Metall und die Volkswagen AG in Wolfsburg am 25. November. Die Beschäftigten des Autoherstellers haben ab dem 1. Januar 1994 eine Wochenarbeitszeit von 28,8 Stunden. Sie verzichten auf 10 Prozent Lohn bei einer um 20 Prozent geringeren Arbeitszeit. Mit der Zustimmung zu dieser Maßnahme will die IG Metall die Entlassung von 30 000 VW-Mitarbeitern verhindern.

Im November sind im Osten und im Westen Deutschlands von allen Bürgern zwischen 16 und 64 Jahren jeweils knapp 65 Prozent erwerbstätig. Das ermittelte das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Die höhere Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern wird durch die größere Erwerbsneigung der ehemaligen DDR-Bürger erklärt.

Auch auf den Schienen wächst zusammen, was zusammengehört. Bundesbahn und Reichsbahn sollen ab 1994 als Deutsche Bahn AG firmieren. Darauf einigen sich der Bund und die Länder am 1. Dezember.

Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf erhält am 3. Dezember in Radebeul den mit 20 000 DM dotierten Hans-Böckler-Preis. Die Gewerkschaften ehren Biedenkopf damit "als den Wissenschaftler, der die Mitbestimmung erforscht, aber auch als den Politiker, der seine Forschungsergebnisse praktisch werden läßt". Im Vorjahr ist der Preis in Berlin zwei Betriebsräten aus Ostdeutschland verliehen worden. "Mit diesen Ehrungen in den neuen Ländern wollen wir all jene ermutigen, die in schwieriger Zeit Aufbauarbeit leisten, Menschen helfen und die demokratischen Strukturen mit Leben erfüllen", betont der stellvertretende DGB-Vorsitzende Ulf Fink.

Grünes Licht für die Sanierung der EKO-Stahl AG in Eisenhüttenstadt geben am 17. Dezember die Wirtschaftsminister der Europäischen Union. Dem größten ostdeutschen Stahlwerk soll mit EU-Geldern geholfen werden.

Der Osten Deutschlands ist attraktiver geworden. 1993 registriert das Statistische Bundesamt 172 425 Umzüge aus dem Gebiet der ehemaligen DDR in die alten Bundesländer, die Wanderungsbewegung hat sich deutlich abgeschwächt. Und immer mehr Westdeutsche und ostdeutsche Rückkehrer verlegen ihren Wohnsitz in die fünf neuen Länder, 1993 entschließen sich 118 975 zu diesem Schritt.

Die nicht gerade rosige Wirtschaftsentwicklung im Jahr 1993 führt zu heftigen Kontroversen über den "Standort Deutschland", der Begriff hat Chancen auf den Rang als Wort des Jahres, das von der Gesellschaft für deutsche Sprache gekürt wird. Das Rennen macht aber der "Sozialabbau".

Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland erhöht sich 1993 erneut. In den alten Bundesländern sind durchschnittlich fast 2,3 Millionen Männer und Frauen registriert, in den neuen Ländern knapp 1,2 Millionen. Arbeitsmarktpolitische Instrumente, wie zum Beispiel die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, entschärfen das Problem etwas: 1,6 Millionen Menschen im Osten sind davon betroffen und 0,4 Millionen im Westen. Viele Jobsuchende melden sich nicht beim Arbeitsamt. Der DGB schätzt, daß rund 7,3 Millionen Arbeitsplätze fehlen.

Die Langzeitarbeitslosigkeit ist auch in den fünf neuen Ländern ein Problem geworden. Über 300 000 Personen sind 1993 bereits länger als ein Jahr arbeitslos. Ihr Anteil ist in Ostdeutschland inzwischen größer als in Westdeutschland. Durchschnittlich dauert die Arbeitslosigkeit 1993 im Osten der Bundesrepublik 41 Wochen, im Westen 28 Wochen.

Ende 1993 gibt es knapp 400 ABS-Gesellschaften in Ostdeutschland. Rund 110 000 Menschen versprechen diese Beschäftigungsgesellschaften eine Zukunftsperspektive.

Knapp 6,2 Millionen Erwerbstätige ermittelt das Statistische Bundesamt für 1993 in den fünf neuen Bundesländern und Ost-Berlin. 1989 waren es dort über drei Millionen mehr.

Der gewerkschaftliche Kampf um die Angleichung der in Ostdeutschland gezahlten Löhne und Gehälter an die Verdienste in den alten Ländern wird wegen der anhaltend schlechten ökonomischen Lage in vielen Wirtschaftsbereichen immer schwieriger. Die 1993 vereinbarten Steigerungsraten fallen insgesamt niedriger aus als in den Vorjahren. Aber es bestehen schließlich in 50 Tarifbereichen Abkommen, in denen eine Anhebung der Grundvergütungen auf 100 Prozent des Westniveaus vereinbart ist. In zwölf Tarifbereichen ist dieses Ziel bereits 1993 erreicht. Fortschritte gibt es auch bei der Erhöhung der tariflichen Zusatzleistungen. In der Druckindustrie und im Gebäudereinigerhandwerk Berlin liegt die Wochenarbeitszeit unter 40 Stunden.

Einkommen und Nachfrage in Ostdeutschland sind immer noch erheblich größer als das selbst erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt. Transferleistungen aus Westdeutschland schließen die Lücke.

In den DGB-Gewerkschaften sind Ende 1993 ungefähr 10,3 Millionen Männer und Frauen organisiert.

Astrid Brand, 1996
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