Arbeiter enttäuschten "Arbeiterkaiser" Wilhelm II.

Sozialreformen verhinderten politische Emanzipation nicht

"Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten". Diese Willensbekundung aus einem seiner Erlasse war dem Deutschen Kaiser Wilhelm II. so wichtig, daß er sie auf einer Gedenkmedaille verbreiten ließ. Der Monarch, dessen Regierungszeit am 15. Juni 1888 begann, wurde nicht selten als "Arbeiterkaiser" bezeichnet, in der Arbeiterbewegung teilte man diese Einschätzung nicht.

Als der 29jährige Wilhelm II. im Dreikaiserjahr nach dem Tod seines nur 90 Tage regierenden Vaters seine Ämter als Deutscher Kaiser und König von Preußen angetreten hatte, nährte der junge Herrscher schon bald Hoffnungen auf einen neuen Stil im Umgang mit dem "vierten Stand". 1889, bei einem großen Bergarbeiterstreik, zeigte der Kaiser - eine durchaus ungewöhnliche Reaktion - gewisse Sympathien für die Ausständler, gewährte auch einer Delegation der Streikenden eine kurze Audienz. Eine Verlängerung des sogenannten Sozialistengesetzes, das seit 1878 die Arbeiterbewegung an ihrer Entfaltung hinderte, ließ er scheitern. 1890 lief die Regelung aus. Mit zwei am 4. Februar desselben Jahres im Reichs- und Staatsanzeiger publizierten Erlassen Wilhelms II. verpflichtete der Kaiser seine Regierung zu sozialpolitischen Reformen. Der eine Erlaß war an den Reichskanzler Otto von Bismarck adressiert und verlangte von ihm die Kontaktaufnahme mit anderen Staatsregierungen "behufs einer internationalen Verständigung über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zu Tage getreten sind". Der andere Erlaß vom 4. Februar galt dem preußischen Minister der Öffentlichen Arbeiten und für Handel und Gewerbe. "Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiter- Versicherungsgesetzgebung sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem Gebiet laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden", heißt es in dem Schreiben. Außerdem wurde der Handelsminister in dem Erlaß beauftragt, gesetzliche Regelungen über eine betriebliche Vertretung der Arbeiter auszuarbeiten.

In der Öffentlichkeit wurden die Februarerlasse wohlwollend und bisweilen sogar begeistert aufgenommen. "Der Sozialdemokrat" etikettierte sie dagegen in seiner Ausgabe vom 15. Februar 1890 als Wahlmanöver, verbuchte sie aber zugleich als Erfolg der sozialdemokratischen Politik: "Man denke: hier der Deutsche Kaiser, der mächtigste Monarch in Europa, der zivilisierten Welt, der Befehlshaber über die, wenn auch nicht der Zahl nach, so doch tatsächlich stärkste Armee der Welt. Dort die Sozialdemokratie, die Partei der Armen und Enterbten, der Habenichtse - aller äußeren Machtmittel bar, unter ein Polizeigesetz gestellt, verfolgt und verfemt. Und gegen diese Partei weiß der Monarch nichts anderes in die Waagschale zu legen, als daß er eine Anzahl von ihr verfochtener Arbeiterforderungen zu erfüllen verspricht.

Dieses Versprechen in dem Moment, das ist in Wirklichkeit Kapitulation vor der Schlacht. Dieses Zugeständnis ... ist eine öffentliche Bestätigung ihres moralischen Sieges über die ihr gegenüberstehenden Gewalten."

Bismarck lehnte den "neuen Kurs" des Kaisers ab. Es sei "die soziale Frage nicht mit Rosenwasser zu lösen, hierzu gehöre Blut und Eisen", kommentierte der Kanzler. Kurz darauf trennte sich Wilhelm II. von seinem höchsten Beamten. Den sozialpolitischen Initiativen des Kaisers hatte der pommersche Junker des öfteren die Unterstützung versagt. Zwar war es Bismarck, der in den achtziger Jahren die Sozialgesetzgebung in Deutschland revolutionierte, aber unter Wilhelm II. versuchte er, dessen Reformansätze abzublocken. Voller Enttäuschung, daß es ihm nicht gelungen war, mit "Zuckerbrot und Peitsche", dem Aufbau einer Sozialversicherung und dem "Sozialistengesetz", der Arbeiterbewegung den Todesstoß zu versetzen, baute der "Eiserne Kanzler" fast nur auf die Repression. Zu den politischen Differenzen zwischen Wilhelm II. und Bismarck kam der - schwerwiegendere - persönliche Gegensatz: Der ungestüme und eitle junge Monarch begehrte gegen die Machtstellung des über 70 Jahre alten obersten Beamten im Deutschen Reich auf. Bis zum 18. März 1890 hatte sich der Konflikt so zugespitzt, daß Bismarck, von Wilhelm II. gedrängt, seinen Rücktritt erklärte.

Rückblickend urteilte 1913 der Pfarrer, Publizist und ehemalige Generalsekretär des national-sozialen Vereins Martin Wenck in der "Hilfe" über die Stimmung nach jenen spektakulären Ereignissen: "So gewaltig erschütternd Bismarcks Sturz wirkte, einem Erdbeben gleich - um der sozialen Frage willen, die gebieterisch alle anderen zurückdrängte, empfanden viele Millionen Deutsche diesen Rücktritt doch wie eine Erlösung. Nun sollte und konnte die Bahn frei werden für eine Epoche sozialen Wirkens. ... Man jubelte über die Februarerlasse des Kaisers. Man jauchzte dem Tag der Aufhebung des Sozialistengesetzes entgegen, an dem sich nun die nationalen und sozialen Kräfte Jung- Deutschlands gegenüber dem entfesselten Riesen, der Sozialdemokratie, messen konnten. Man stürzte sich auf die sozialistische Literatur, um die Spreu vom Weizen scheiden zu können, einen neuen besseren nationalen oder auch christlichen Sozialismus zu schaffen, in Volksversammlungen, Gewerkschaftsversammlungen mit der Sozialdemokratie zu diskutieren. Wilhelm II. wurde der 'Arbeiterkaiser', der 'uns großen Tagen entgegenzuführen' schien. Dieser Begeisterungsstrom drang sogar in die Amtsstuben der Regierung und die Aktenbündel der Konsistorien hinein. 'Sozial sein' war jetzt so gut wie 'königstreu', war so gut wie 'hoffähig' geworden." So schwärmte Wenck von jener Aufbruchstimmung, die schlagartig verschwand, als "das soziale Barometer am Kaiserhof auf 'veränderlich' hindeutete und darüber hinuntersank", wie der Beobachter im selben Artikel erklärte.

Dieser Wetterumschwung ließ nicht lange auf sich warten. Wenige Jahre nach den Februarerlassen war der "neue Kurs" veraltet, der so "neu" auch eigentlich gar nicht gewesen war. Wie Bismarck, so war auch Wilhelm II. nur bereit, der Arbeiterschaft einige soziale Verbesserungen zuzugestehen, ihre politische Emanzipation wollte er nicht dulden. Während aber der "Eiserne Kanzler" Eingriffe des Staates in das Arbeitsverhältnis ablehnte, plädierte der Kaiser auch für ein Arbeiterschutzprogramm. Als seine vollmundigen Erklärungen jedoch nicht zum erhofften Niedergang der Sozialdemokratie führten, verlor der Monarch das Interesse an der "sozialen Frage". Zwar verzeichnen die Historiker eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten der Arbeiterschaft, aber zugleich auch etliche Versuche, die politische Arbeiterbewegung zu unterdrücken.

Auf der sozialpolitischen Habenseite Wilhelms II. können hauptsächlich erwähnt werden: Das noch vor Beginn seiner Regierungszeit initiierte Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889), eine internationale Arbeiterschutzkonferenz in Berlin (1890), die Novellen zur Gewerbeordnung (1891 und 1908), die Novellen zum preußischen Berggesetz (1892 und 1905), die Einführung der obligatorischen Gewerbegerichte (1901), ein erweitertes Kinderschutzgesetz (1903), ein weiteres Unfallversicherungsgesetz (1900) und Krankenversicherungsgesetz (1903), die Reichsversicherungsordnung (1911), die Angestelltenversicherung (1911) und das "Hilfsdienstgesetz" (1916). Die Initiativen zu den sozialpolitischen Reformen kamen jedoch überwiegend nicht vom Kaiser selbst, sondern aus dem Beamtenapparat.

Wilhelms II. Image des Arbeiterkaisers abträglich waren vor allem die "Umsturzvorlage" von 1894 und die "Zuchthausvorlage" von 1899. Terroristische Anschläge auf den italienische Ministerpräsidenten Francesco Crispi und den französischen Staatspräsidenten Sadi Carnot, der bei dem Attentat starb, veranlaßten Wilhelm II., eine Verschärfung des Vereins- und Versammlungsrechts sowie des Presserechts zu fordern, um auf diese Weise die politische und gewerkschaftliche Tätigkeit der Arbeitervereine zu beschränken. Die "Umsturzvorlage" scheiterte an der Befürchtung der Liberalen, daß ihre Bestimmungen sich nicht nur gegen die Arbeiterbewegung richten könnten. Der Entwurf eines "Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse" fand ebenfalls keine Mehrheit im Reichstag. Nur die Konservativen stimmten ihm zu. Ihren Namen verdankte die Zuchthausvorlage Wilhelm II., der 1898 bei einer Galatafel in Bad Oeynhausen ein Gesetz angekündigt hatte, wonach "jeder - er möge sein, wer er will, und heißen, wie er will -, der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu hindern versucht oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll."

Mit solchen Gesetzen hoffte der Kaiser, die sozialdemokratisch dominierte Arbeiterbewegung zu zerstören. Sozialdemokraten waren für ihn "Reichs- und Vaterlandsfeinde", eine "revolutionäre Pest", "die", so erklärte er 1897, "ausgerottet werden müßte bis auf den letzten Stumpf". Und schon 1891 hatte er in einer aufsehenerregenden Rede bei der Rekrutenvereidigung der Garderegimenter in Potsdam gesagt: "Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, daß Ich euch befehle, eure eignen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen - was ja Gott verhüten möge -, aber auch dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen." Diese und andere Reden erwiesen Wilhelm immer wieder als Geistesverwandten Bismarcks. Und die Sozialpolitik von Kaiser und Kanzler entsprang wohl ebenfalls ähnlichen Gedanken, die eine Resolution des SPD-Parteitages von 1892 zu erklären versuchte: "Der sogenannte Staatssozialismus, insoweit er sich mit Sozialreform oder Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen beschäftigt, ist ein System von Halbheiten, das seine Entstehung der Furcht vor der Sozialdemokratie verdankt. Er bezweckt, durch kleine Konzessionen und allerlei Palliativmittel die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie zu entfremden und diese dadurch zu lähmen."

Wilhelms II. Wunsch, die Sozialdemokratie zu zerstören, erfüllte sich nicht, und beim Regierungsjubiläum des Kaisers höhnte der "Vorwärts" in seiner Ausgabe vom 16. Juni 1913: "Der 'vorübergehenden Erscheinung' der Sozialdemokratie ... hat Wilhelm II. bittere Fehde geschworen, zerschmettern möchte er sie am liebsten, und sie wächst, blüht und gedeiht, sie hat rote Backen und pralle Muskeln und sieht aus wie das ewige Leben, und das Tragischste ist: Jede der vielumstrittenen Reden des Kaisers hat ihr Tausende neuer Anhänger zugetrieben. Die Blitze, mit denen Jupiter unsere Köpfe treffen wollte, haben nur unzählige neue Köpfe erleuchtet.

Darum feiern wir, dankbaren Herzens, doch mit! Millionen 'viele Millionen vorübergehender Erscheinungen' grüßen den Träger heute mit dem Ruf: Es lebe die Republik!"

Astrid Brand, 1988
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